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Schulden

© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor

Text für das Projekt „Divan/Die Couch“ von Michel Didym am Schauspielhaus Wien, 2007

Monolog

Mein Leben war plötzlich so kompliziert. Ich habe mein Leben einfach nicht mehr verstanden. In meinem Job, zum Beispiel, wusste ich plötzlich nicht mehr, worin eigentlich meine Arbeit bestand. Ich hatte Angst, meinen Computer einzuschalten, weil ich nicht mehr wusste, was ich eigentlich zu tun hatte. Ich konnte meine Emails nicht mehr beantworten, weil ich nicht mehr verstand, worum es in diesen Emails überhaupt ging. Die Emails waren an mich gerichtet, aber der Inhalt hatte nichts mit mir zu tun. Plötzlich hatten meine Emails und meine Telefonate und meine Termine nichts mehr mit mir zu tun. Plötzlich war mein Leben so kompliziert. Ich musste etwas tun, damit aus meinem Leben wieder ein Leben wird, das ich verstehe. Deshalb habe ich angefangen zu spielen. Zuerst hatte ich Angst. Ich hatte Angst davor, das Casino zu betreten. Ich hatte Angst davor, die Jetons in die Hand zu nehmen. In dem riesigen Raum standen Roulettetische und Pokertische und Tische für Black-Jack und Tische für Spiele, die ich nicht kannte. Ich hatte Angst, mich an einen der Tische zu stellen. Die Croupiers kann man nicht täuschen. Die Croupiers durchschauen einen sofort. Sie sahen, dass ich zum ersten Mal da war. Ich war furchtbar nervös. Ich hatte nur ein paar Jetons gewechselt. Das Minimum. Und ich hatte Angst, diese Jetons zu setzen. Ich wollte auf keinen Fall meine Jetons verlieren. Das Licht war viel zu hell. Und der Raum war zu groß. Und es war still. Obwohl so viele Menschen da waren. Ich konnte mich nicht auf die Zahlen auf der Anzeigetafel konzentrieren. Ich wollte nur etwas trinken. Am liebsten wäre ich wieder gegangen. Ich fühlte mich nicht wohl. Aber ich habe mich gezwungen, zu bleiben. Ich hatte noch kein System. Ich wusste nicht einmal, dass man ein System braucht. Beim Roulette braucht man ein System. Ohne System ist man ein Niemand. Man braucht ein eigenes System. Jetzt habe ich keine Angst mehr. Jetzt gehe ich viermal in der Woche hin. Ich ziehe meinen dunkelblauen Anzug an und meine teuren Schuhe. Es ist so schön, dass es wieder eine Gelegenheit gibt, den Anzug zu tragen. Jetzt habe ich auch ein System. Ich kenne die meisten Systeme. Aber man muss sich auf einige wenige konzentrieren. Ich spiele Roulette und Poker und Black Jack. Ich spiele fast alles, was angeboten wird. Ich wechsle zwischen den Spielen und ich wechsle zwischen den Tischen. Es ist wichtig, dass man die ganze Zeit in Bewegung bleibt. Das Körper muss in Bewegung sein. Wenn ich merke, dass es beim Roulette oder bei den Karten heute nicht gut für mich läuft, gehe ich zu den Automaten. In der Zwischenzeit bin ich schon mit einigen der Croupiers befreundet. Sie kennen mich. Sie begrüßen mich, wenn ich komme. Ich habe meinen Lieblingstisch. Wenn ich eine Pause mache, stelle ich mich an die Bar. Ich trinke zwei oder drei Bier. Oder esse einen Toast. Ich setze mich und sehe den anderen zu. Ich fühle mich wohl. Ich brauche mich hier nicht zu verstellen. Ich habe das Gefühl, dazuzugehören. Seitdem ich regelmäßig ins Casino gehe, verstehe ich wieder mein Leben. Ich verstehe wieder, wer ich bin. Ich verstehe wieder die Gespräche, die ich führe. Ich wundere mich nicht mehr über das, was ich sage. Ich kann mich mit dem, was ich sage, identifizieren. Es gibt 760 000 Millionäre auf der Welt. Und zu denen werde ich auch einmal gehören. Das weiß ich. Aber ich spiele nicht, um Millionär zu werden. Das ist die falsche Strategie. Damit fällt man auf die Nase. Ich spiele, um mein Leben zu verstehen. Man muss sein Leben in die Hand nehmen. Aber es hat keinen Sinn, etwas in die Hand zu nehmen, das man nicht versteht. Das Casino bringt Klarheit in mein Leben. Das Casino hat wieder Ordnung in mein Leben gebracht. Ich habe meinen Job gekündigt, damit ich mehr Zeit und Konzentration für das Spielen habe. Man muss sich entscheiden, was einem wichtig ist. Mein Job hat mich daran gehindert, vorwärts zu kommen. Deshalb musste ich kündigen. Seitdem ich spiele, habe ich Schulden. Das stimmt. Aber wer spielt, darf keine Angst vor Schulden haben. Ich spiele mit kleinen Beträgen. Mit Zehn-Euro-Jetons. Manchmal mit Fünfzig-Euro-Jetons. Nur wenn mein System mich dazu auffordert, einen höheren Betrag zu setzen, dann tue ich das. Dann setze ich hundert oder fünfhundert Euro. Es gibt Spieler, die setzen viel mehr. Das sind die unvernünftigen Spieler. Dazu gehöre ich nicht. Ich handle rational. Wenn meine Schulden eine bestimmte Höhe erreicht haben, werde ich zur Schuldnerberatung gehen. Das ist der normale Weg. Aber bis dahin habe ich noch Zeit. Das sagt auch meine Bank. Natürlich werden die Schulden immer größer und größer. Aber diese Schulden helfen mir, mein Leben zu verstehen. Meine Schulden bewirken, dass ich mein Leben wieder verstehe. Jetzt, wo ich einen Weg gefunden habe, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen, muss ich diesen Weg weitergehen. Ich kann jetzt nicht mehr zurück in ein Leben, das so kompliziert ist und in dem trotzdem nichts Wichtiges passiert. In meinem Leben ist nichts Wichtiges passiert. Das weiß ich jetzt. Nicht einmal im Urlaub ist etwas Wichtiges passiert. Nie war ich mir sicher, ob es diese blauen Buchten und Sonnenuntergänge und seltenen Tierarten auch wirklich gibt. Obwohl ich alles mit meiner Videokamera aufgenommen habe, war ich mir nie sicher, ob es wirklich da ist. Dieses Restaurant in Spanien, zum Beispiel, oder dieser Strand auf Kreta waren vielleicht gar nicht da. Diese wunderbaren Orte und die schönen Abende waren nur eine Täuschung. Die ganze Zeit habe ich darauf gewartet, dass in meinem Leben etwas Wichtiges passiert. Ich habe vergeblich darauf gewartet, bis ich angefangen habe zu spielen. Bis ich angefangen habe, ins Casino zu gehen. Ich brauche das Casino. Ich brauche meine Schulden. Das muss ich meiner Bank erklären. Andere haben noch höhere Schulden. Andere handeln nicht rational. Ich weiß, was ich tue. Was habe ich von einem Leben, in dem es keine Schulden gibt, aber in dem nichts Wichtiges passiert und in dem alles eine Täuschung ist? Die Schulden sind ein Beweis dafür, dass ich ein Leben führe, in dem etwas Wichtiges passiert.