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Robben

© Robert Woelfl

Textausschnitt

Überall im Körper saßen Beobachter. In den Füßen, in den Händen, in den Armen, im Herz, in der Lunge. Sie rasten auf den Kanälen des Blutes in alle wichtigen Organe. Sie erreichten die entlegensten Gebiete, sie kamen bis in die Fingerspitzen und in die Wurzeln der Haare. Sie überwachten und kontrollierten und führten Messungen durch. Sie sendeten ihre Daten an die Abteilung von Doktor Stirbnicht. Zuverlässig, fehlerlos, rund um die Uhr. Jeden Tag und jede Woche. Sie saßen an der Quelle, am Ort des Geschehens. Sie waren näher dran als irgendjemand sonst. Sie arbeiteten unermüdlich, konzentriert, akribisch. Sie hielten alles fest. Und trotzdem konnten auch diese Wundermeister, diese hochgelobten, superteuren Spezialisten, diese neuesten Ergebnisse der Entwicklung nicht verhindern, dass der Drachenkopf immer mehr Besitz von ihr ergriff. Dass er sie auffraß, auch wenn man es nicht sah, wenn niemand es sah, weil man es nicht sehen konnte. Aber so war es. Oder war es vielleicht nicht so? Ist das nicht die Wahrheit? Auch wenn Doktor Stirbnicht und das ganze Team im orangen Zimmer ständig sagten, das kann sich noch einmal ändern. Das kann wieder anders werden. Nein, das wird sich nicht mehr ändern. Trau niemandem, der nicht die Wahrheit sagt.

Im Januar wurde sie einundvierzig, und einundvierzig, was war das schon? Einundvierzig, das war doch erst ein Hauchen und Atmen und nicht mehr als ein einzelner schöner Tag. Genaugenommen. Sie war doch noch immer jung. Und sie hatte eine Karriere. War auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Das heißt, einer kleinen, sehr kleinen Karriere. Aber immerhin. Sie hatte ein Engagement. Sie spielte. Während viele andere ihrer Kolleginnen das nicht taten, oder nur für eine Produktion engagiert waren und danach wieder nach der nächsten Produktion Ausschau halten mussten. Sie hatte bereits ein Engagement für den Sommer, sie wusste auch schon, was sie im nächsten Herbst machen würde. Sie hatte Pläne. Und sagte man nicht, dass jemand, der Pläne hatte, vom Leben unabkömmlich wäre? Dass ihn das Leben nicht entlassen werde, weil es ihn gar nicht gehen lassen konnte? Sie wurde gebraucht, sie wurde beschäftigt, man fragte nach ihr. Sie hatte Verträge unterschrieben, sie spielte im Fernsehen, sie sprach im Radio. Sie befand sich auf dem Höhepunkt. Oder vielleicht nicht? Zweifelte das jemand an? Sie fühlte sich gut, sie spürte, dass sie sich bewegte, und dass alles um sie herum in Bewegung war. Und diese Bewegung, das Hin und Her von Menschen und Autos, das Auf und Ab von Geschäftsöffnungszeiten und Arztterminen, dieser ganze Zirkus von Bedeutung und den Fragen danach, was als nächstes zu tun war, erzeugte in ihr die Vorstellung, dass das alles einen Sinn hatte. Einen Sinn, in dem sie aufgehoben war wie ein Kirschkern in einer Kirsche. Deshalb konnte sie einfach nicht verstehen, dass alles bald vorbei sein sollte. Oder vielleicht vorbei sein könnte. Wie Doktor Stirbnicht sagen würde. Dieser ewige Optimist. Nein, nein, nein. Und noch einmal nein. Bitte keinen unangebrachten Trost. Sie konnte es nicht verstehen, aber sie war dabei zu lernen, es zu akzeptieren. Das Nicht-Verstehen pulsierte die ganze Zeit in ihr. Es war ihr stärkstes Ich.

Von der U-Bahn nahm sie den kürzesten Weg zum Park. Am Tor kaufte sie beim Maroni-Stand um drei Euro eine Tüte mit neun Stück, die sie in ihrer Tasche verstaute. Dann ging sie den asphaltierten Weg an den gestutzten Bäumen und den kalten grünen Bänken vorbei zum Eingang des Zoos. Es war schon fast halb vier. Sie wollte nicht zu spät sein. Schließlich wollte sie einen guten Platz weit vorn. An der Kasse hielt sie ihre Jahreskarte vor das Lesegerät und ging durch das Drehkreuz. Sie hatte eine Jahreskarte. Ja, sie hatte sich eine Jahreskarte gekauft. Warum nicht? Doktor Stirbnicht wäre zufrieden mit ihr. Aber er wusste nichts von der Jahreskarte.
Die Sonne war dabei, hinter den kahlen Bäumen zu verschwinden. Von Erwärmen konnte sowieso keine Rede mehr sein. An dem nebelverschmierten Himmel sah sie schmutzig und desinteressiert aus.
Anna schlug den Weg zum Robbenbecken ein. Dabei kam sie am Pavillon vorbei, dessen Fenster hell erleuchtet waren und durch dessen offene Tür Geschirrklappern nach draußen drang, und bei der Gepardenanlage, wo alles still war und wie verwaist dalag. Nachdem sie auch am Affenhaus vorbei war, stand sie vor dem großen Becken des Polariums. Die Robben waren ein Publikumsmagnet. So zumindest warb der Zoo für seine Mähnenrobben. Und die größte Attraktion war die Fütterung.
Als Anna die Anlage erreichte, drängten sich dort schon die Besucher. Kinder rannten auf und ab, schrien, schubsten einander, spielten fangen, wollten von ihren Vätern auf die Schultern gehoben werden, um alles sehen zu können. Mütter mit Kinderwägen baten darum, ganz nach vor zu dürfen. Die besten Plätze waren die am Beckenrand und die unmittelbar hinter der großen Glasscheibe, wo man die Robben beim Tauchen beobachten konnte. Diese Plätze waren als erste vergeben.
Anna wollte so weit vorn wie möglich stehen, direkt hinter der großen Glasscheibe, die auf einer Seite das Becken begrenzte. Sie trug ihre schwarze Stoffjacke mit dem Lammfellkragen, aber sie hätte die Daunenjacke nehmen sollen, so wie es ihre Mutter ihr geraten hatte. Zieh die Daunenjacke an, es wird kalt werden. Nein, die Stoffjacke reicht. Mach dir nicht immer so viele Sorgen, Mama. Ja. Nein. Ja. Nein. Jetzt musste sie den Reißverschluss der Jacke schließen und die Arme vor dem Körper verschränken, so kalt war es doch.
Sie fragte die Frau, die neben ihr stand, nach der Uhrzeit. Sie hätte auch selbst nachsehen können, aber sie wollte mit jemandem sprechen.
Es wird gleich beginnen, antwortete die Frau und nickte dabei zufrieden. Gleich beginnt es. Es beginnt immer pünktlich.

Ende des Textausschnitts

 

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