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Heiler

© Robert Woelfl

Textausschnitt

Sie fuhren mit Caspars Audi. Caspar am Steuer. Niko daneben. Richie auf dem Rücksitz. Alle im Anzug. Caspar mit weißem Hemd. Die anderen im T-Shirt. Sie kamen direkt vom Büro. Nach einer. Was für einer Woche. Ohne weiteres konnte diese Woche im Gedächtnisverlust verschwinden. Sie hatten zwei Projekte abgegeben. In allerletzter Minute. Und dafür weder Lob noch irgendeine andere Form der Anerkennung erhalten. Von niemandem. So wie Niko immer sagte: Diese Firma kennt keinen Dank, sie kennt nur Selbstverständlichkeit. Die beiden Projekte waren draußen, da lagen schon zwei neue auf dem Tisch. Genau so aufwendig wie die anderen. Noch bevor sie damit beginnen konnten, setzte sie der Zeitplan schon unter Druck. Zum Glück, zum Glück, zum Glück war diese Woche endlich vorbei. Vergangenheit. Die Wertschöpfung legte eine Pause ein.

Ich weiß schon, was ich machen werde.
Was?
Einen Kopfstand.
Caspar sah zu Niko. Kopfstand? Das kannst du doch gar nicht.
Warum glaubst du, dass ich keinen Kopfstand kann?
Richie lachte auf. Hinten, auf dem Rücksitz. Kopfstand? Seit wann kannst du einen Kopfstand? Ich habe dich noch nie einen Kopfstand machen gesehen.
Niko drehte sich nach hinten. Was glaubst du? Ich mache extra für dich im Büro einen Kopfstand? Zu deiner Unterhaltung?
Kannst du wirklich einen Kopfstand?
Kann ich. Niko rauchte und blies den Rauch durch den Spalt beim Fenster hinaus.
Ohne dich abzustützen? Mitten im Raum? Richie kniff die Augen zusammen und griff nach der Zigarette.
Exakt. Mitten im Raum. Mittendrin.
Caspar sah ihn von der Seite an. Ohne Wand, um dich abzustützen?
Ohne Wand.
Kopfstand ist nicht schlecht.
Kopfstand ist perfekt.
Und wie fängst du an?
Ich knie mich hin, Kopf auf den Boden, Hände daneben, dann die Beine anziehen. So wie man einen Kopfstand macht.
Richie lachte wieder. Das möchte ich sehen.
Niko trommelte mit den Händen auf das Handschuhfach. Das wirst du auch sehen.
Im Anzug?
Klar im Anzug.
Wenn du einen Kopfstand machst, ziehe ich mich aus, sagte Richie.
Caspar sah ihn im Rückspiegel an. Du ziehst dich aus? Was? Das Sakko?
Sakko und Hemd.
Sakko und Hemd und Hose. Du musst auch die Hose ausziehen, sagte Niko.
Auch die Hose?
Auch die Hose. Und die Shorts.
Meinetwegen. Auch die Shorts. Wenn du es sagst. Richie ließ die Zigarette weiterwandern und lachte. Er fuchtelte mit der Hand den Rauch zur Seite.
Das möchte ich sehen.
Das wirst du sehen.

Der Audi schwebte über die Autobahn. Freitag Nachmittag. Mittelstarker Verkehr Richtung Süden. Caspar starrte auf die Straße. Er fixierte die Autos vor ihm. Ein VW aus Tschechien. Ein Kleinlaster aus Ungarn. Die anderen aus Wien. Der Rauch machte, dass sein Blick wie ein Iglu war. Seine Nasenspitze wie ein Bleistift. Es war seine Idee gewesen. Nach dem Büro nicht gleich zum Feiern, sondern zuerst raus. Sich den Heiler ansehen. War das nicht das absolute? War das nicht spektakulär? Der Audi hatte rote Sportsitze und eine Mittelkonsole wie ein Airbus. Er hatte ein Vermögen gekostet, aber er war besser als jede Wiedergeburt. Die ganze Welt verwandelte sich in Innenwelt. Außerhalb des Audi versanken die Häuser langsam im Boden. Die Stadt verwandelte sich in große Felder, in eintönige, flache Landschaft. Nichts, für das sich jemand mit ihrem Beruf interessierte. Landschaft war nichts für ihr Denken.

Und du? Was machst du? fragte Niko.
Weiß ich noch nicht. Caspar nahm die Zigarette und befeuchtete sich die trockenen Lippen. Asche fiel auf seine Hose.
Einen Erstickungsanfall simulieren?
Oder einen Erleuchtungsanfall simulieren?
Oder herumwatscheln? Wie eine Ente?
Caspar sah wieder in den Rückspiegel zu Richie. Warum wie eine Ente?
Warum nicht?
Wie eine Ente, wiederholte Niko. Mach eine Ente nach.
Der Typ hat gesagt, er ist viertausend Jahre alt.
Seine Seele ist viertausend Jahre alt.
Wo ist der Unterschied?
Vor viertausend Jahren wurde der Berg gegründet.
Was für ein Berg?
Keine Ahnung. Er hat jedenfalls gesagt, dass er dabei war.
Stimmt. Er nennt sich Gründungsvater des Berges.
Du könntest eine viertausend Jahre alte Ente sein. Niko hüpfte auf seinem Sitz auf und ab. Du watschelst als viertausendjährige Ente durch den Raum.
Das halten meine Knie nicht aus, sagte Caspar.
Das musst du in Kauf nehmen, sagte Richie.
Nimm es in Kauf. Nimm es in Kauf, lachte Niko. Und danach fällst du einfach um. Eine viertausendjährige Ente mit Kreislaufproblemen.
Ich will geheilt werden, brüllte Richie. Ich will geheilt werden. Deshalb bin ich hier.
Keine Chance, du wirst nicht geheilt, brüllte Niko zurück.
Ich brauche aber Heilung, rief Richie noch einmal. Deshalb bin ich hier.
Für dich gibt’s keine Heilung, sagte Niko. Zu spät. Der Berg hat entschieden, keine Heilung für dich.
Sie lachten. Alle. Niko reichte die Zigarette weiter.
Heilung kann niemals schaden, sagte Caspar. Er wischte die Asche von seiner Hose. Vom tadellosen Anzug. Heilung kann niemals schaden. Dann verschmolz er mit seinem geliebten Auto. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und er musste blinzeln.

Die Fahrt dauerte nicht einmal eine Stunde. Von der Autobahnabfahrt war es nur mehr ein kurzes Stück. Bundesstraße, Nebenstraße, eine Seitengasse. Dann waren sie da. Breite Gehsteige ohne Menschen. Einzelne, frisch gesetzte Bäume. Noch mit den Stützen dran. Ausgestorbene Kleinstadt. Sämtliche Bewohner verschwunden. Möglicherweise Opfer von Zombies.
Caspar lenkte den Audi auf den Parkplatz. Ein von Hand geschriebenes Plakat verkündete: Parken gratis. Es waren etwa sechzig oder siebzig Autos da. Genügend freie Plätze. Keine Audis. Zwei BMW, ein Mercedes. Was auf den ersten Blick zu erkennen war. Caspar stellte das Auto neben einen Kleinbus aus Graz.
Es war noch früh. Kein Grund zur Eile. Die Veranstaltung begann erst in einer Stunde. Das Optimale wäre jetzt ein Kaffee. Vielleicht gab es drinnen eine Bar oder wenigstens einen Automat. Sie befreiten sich aus dem Auto. Schüttelten sich. Streckten sich. Richie zog sein Sakko an. Später musste er nochmals zum Auto zurück, weil er sein Telefon vergessen hatte. Es war zwischen die Mittelkonsole und den Sitz gerutscht.
Niko trank seine Wasserflasche leer und warf sie in den Mistkübel. Dann hatten sie alles.
Der Ort, an dem das Allesverändernde Auge auftrat, war ein Turm, der in der Regel Messen beherbergte. Modellbau, Gartengestaltung, Freizeit, Pornographie. Die unterschiedlichsten Branchen. Und Kongresse. Diabetes, Brustkrebs, Sicherheit. Fünfhundert bis tausend Plätze Fassungsvermögen. Mehrere Säle. Ein blauer Saal, ein roter Saal, das ganze Farbspektrum.
Jeder von ihnen war schon einmal bei einem Kongress hier gewesen.

Beim Eingang wurden sie von einem großen farbigen Plakat begrüßt. Das Allesverändernde Auge blickte darauf unendlich friedvoll in die Ferne. Oder die Zukunft. Je nach Interpretation. Das Gesicht hatte ebenmäßige Züge und war braun gebrannt. Umrahmt wurde es von dichten schwarzen Locken.
Nachdem sie durch die Tür durch waren, blieb Caspar stehen und sah sich nach der Cafeteria um.
Ich möchte einen Kaffee, sagte er. Kaffee, Kaffee, Jetzt sofort.
Sieht hier nicht nach einem Café aus, sagte Niko.
Es gibt kein Kongresszentrum ohne Café.
Siehst du eines?
Es gab hier doch immer eines.
Wann? Vor viertausend Jahren? Ich sehe keines.
Vielleicht oben.
Oder auch nicht.
Wetten, dass sie auf das Café vergessen haben?
Man kann nicht auf das Café vergessen. Das ist gar nicht möglich.
Sie fuhren mit der Rolltreppe in den ersten Stock. Aber auch da weit und breit kein Café. Oder etwas Verwandtes. Nicht einmal ein Automat.
Sie fuhren in den dritten Stock, wo die Veranstaltung stattfand. Als sie den Gang betraten, der zum Veranstaltungsraum führte, standen dort entlang der Wände Büchertische. Mit Stapeln von Büchern mit den Worten des Allesverändernden Auges. Die meisten noch in Plastik eingeschweißt. Obenauf ein Ansichtsexemplar. Das Auge und die Zeit. Das Auge und die Gesellschaft. Das Auge und die Verantwortung. Vor den Tischen patroullierte eine Frau. Sie rückte die Stapel zurecht. Und die Schilder mit den Preisen.
Sie waren nicht die ersten. Es mussten rund hundert Menschen da sein. Oder sogar mehr. Viele unterhielten sich miteinander. Leise. Flüsterten. Sprachen einander ins Ohr. Offenbar viele Freundesgruppen. Und ganze Familien.
Caspar setzte sich auf einen Stuhl, der unbenützt vor einem der Tische stand. Er hegte nach wie vor die Hoffnung, dass es irgendwo einen Kaffeeautomaten gab. Weil es einfach nicht sein konnte, dass es in einem Kongresszentrum keinen einzigen Automaten gab.
Eine Frau mit einem großen Strauß orangefarbener Gerbera stand vor einer Tür. Wie überhaupt mehrere Personen Blumensträuße in der Hand hielten. Noch in Papier oder Zellophan verpackt. Rosen und Lilien. Manche dieser Sträuße mussten viel Geld gekostet haben. Auf der einen Seite des Ganges stand sogar ein ganzer Tisch mit lauter Blumensträußen. Mit den vielen Blumen sah es aus wie bei einer Beerdigung.
Es war noch nicht zu erkennen, in welchem Raum das Ganze stattfand. Von dem Gang gingen mehrere Türen weg. Auch gab es nirgendwo einen Hinweis darauf, wann der Einlass begann. Keine Leuchttafel. Oder etwas Ähnliches. Einzelne Security-Typen in schwarzen Hosen und schwarzen, engen Hemden sprachen aufgeregt in ihre Walkie-Talkies. Tatsächlich alte Walkie-Talkies wie aus der Zeit der Urmenschen, wobei nicht zu erkennen war, was die Security-Typen so aufregte. Vielleicht waren die Walkie-Talkies auch Attrappen.
Wann geht es los? fragte Richie mehrmals. Er war so nervös, als würde er zu einer Prüfung aufgerufen werden.
Sei nicht so ungeduldig, sagte Niko.
Es müsste schon begonnen haben.
Wir werden schon merken, wenn es beginnt.
Die Betonwände im Gang waren nicht verkleidet. Irgendwie war in diesem Kongresszentrum alles aus Beton. Aus grauem, aus braunem, aus schwarzem Beton. Einmal glatt, einmal rau.

Nach und nach drängten immer mehr Menschen von unten über die Rolltreppe herauf. In der Mitte des langgestreckten Ganges befand sich eine große, dunkelbraune, zweiflügelige Tür, vor die sich nun zwei Security-Typen postierten. Beide mit dunklen Sonnenbrillen. Beide mit Walkie-Talkies. Einer von ihnen gab kleine Zettel aus. Offenbar Zettel mit Nummern. Caspar holte sich einen Zettel. Danach auch Richie und Niko. Sie hatten die Nummern dreihundertsiebzehn, dreihundertachtzehn und dreihundertneunzehn. Richie zeigte stolz seine Nummer, als hätte er damit gerade in der Lotterie gewonnen.
Die Nummern konnten nicht fortlaufend sein und konnten unmöglich bei eins begonnen haben. Keinesfalls waren dreihundert Menschen da.
Nichts passierte. Alle warteten darauf, dass sich die braune Flügeltür öffnete. Nach einer Weile wurden die ersten unruhig. Drängten nach vor. Längst war es sechs Uhr vorbei. Richie erkundigte sich bei einem der Security-Typen, wann es losging, aber der Mann zuckte nur mit den Schultern.
Links von der braunen Tür hing eine Tafel, auf der das Piktogramm eines Fotoapparats deutlich rot durchgestrichen war. Keine Fotos. Keine Filme. Keine Tonaufnahmen.
Caspar stand in der ersten Reihe. Wenn schon, denn schon. Und hielt seinen Zettel fest in der Hand. Niko stand in der zweiten Reihe und grinste. Er deutete auf seine Uhr. Die Security-Typen standen immer breitbeiniger da. Als müssten sie sich wappnen, eventuell umgerannt zu werden. Sie sprachen immer hysterischer in ihre kleinen schwarzen Schachteln. Kein Wort davon war zu verstehen. Wahrscheinlich alles Geheimsprache.
Die lassen uns warten, sagte Niko, der sich ein Stück nach vor gedrängt hatte. Die lassen uns jetzt viertausend Jahre lang warten.
Dann öffnete sich schließlich doch die Tür. Die Türflügel gingen nach innen auf. Und alle strömten augenblicklich hinein. In einen hohen fensterlosen Raum mit einem beigefarbenen Teppichboden, auf dem die Schuhe keinen Lärm erzeugten. Am Ende des Raumes befand sich ein Podest. Nicht viel höher als ein Meter. Spanplatten auf einer Metallunterkonstruktion, zu der jeweils rechts und links eine Treppe hinaufführte. Auf jeder Seite des Podests standen drei dunkelgrüne Buchsbäumchen in Töpfen. Sonst war der Raum leer. Kein Rednerpult. Keine Lautsprecherboxen. Zumindest nicht sichtbar.
In kürzester Zeit hatten sich die Menschen im Raum verteilt. Das war so schnell und professionell passiert, dass man annehmen konnte, viele waren nicht zum ersten Mal da. So als wüssten sie, wo die besten Plätze wären. Nach dem Zettel mit der Nummer hatte beim Einlass niemand mehr gefragt.
Damit kannst du dir jetzt die Nase putzen, sagte Niko zu Richie.

Caspar stellte sich direkt vor das Podest. Nicht in die erste Reihe, die war schon besetzt, aber gleich dahinter. Zwei ältere Frauen, sowie eine Frau mit einem Kind auf dem Arm und ein Mann mit einem Zeichenblock standen vor ihm.
Niko berührte ihn am Arm. Wann fangen wir an? Gleich, wenn er hereinkommt?
Nach zwei oder drei Minuten, sagte Caspar.
Gut. Nach zwei Minuten, sagte Niko.
Der Teppich war weich. So weich wie die Stimmung im Raum. Caspar sah, dass einige ihre Schuhe ausgezogen hatten. Dieselben zwei Security-Typen, die draußen die Tür bewacht hatten, bezogen jetzt Stellung neben dem Podest. Neben den Buchsbäumen.
Zehn Minuten lang passierte gar nichts. In der Zwischenzeit musste jeder seinen Platz gefunden haben. Manche schüttelten die Beine aus. Eine Frau kreiste ihre Schultern. Ein Mann in einer Jeansjacke knackte die Knochen seiner Finger. Ein Kleinkind schlief mit dem Kopf an der Schulter seiner Mutter.
Hast du schon den Teppich bemerkt? fragte Niko, der direkt hinter Caspar einen Platz gefunden hatte. Ein Spannteppich. Kannst du dir vorstellen, wie viele Bakterien auf diesem Teppich leben? Auf einem einzigen Quadratmeter? Wenn hier jeden Tag einhundert Menschen stehen, kannst du dir das vorstellen?
Auf der linken Seite öffnete sich plötzlich eine Tür. Ein Mann in einem Anzug mit hellblauer Krawatte betrat den Raum und ging nach vor bis zum Podest. Er kündigte die Assistentin des Allesverändernden Auges an. Er sagte: Sie wird Sie auf das Ereignis vorbereiten. Sie wird denjenigen, die zum ersten Mal hier sind, beschreiben, was geschehen wird. Das wird Ihnen helfen.
Damit verschwand er wieder, jetzt durch eine Tür auf der rechten Seite. Noch einmal vergingen fünf Minuten, bis die angekündigte Assistentin den Raum betrat, durch dieselbe Tür auf der linken Seite, durch die auch der Mann davor gekommen war. Sie positionierte sich ebenfalls neben dem Podest. Schmales Gesicht. Große, markante Nase. Lange, dunkelbraune Haare. In ihrer geraden Haltung mit dem leicht nach hinten gebeugten Oberkörper lag etwas Stolzes. Ihre klaren Augen leuchteten im Licht des einzigen Scheinwerfers. Sie sagte, wobei sie den Kopf dabei noch etwas weiter nach hinten legte: Gleich wird das Allesverändernde Auge den Raum betreten. Er wird sich auf dieses Podest stellen und wird Sie ansehen. Er wird Ihnen in die Augen sehen. Jedem einzelnen von Ihnen. Er wird Sie erkennen. Erschrecken Sie nicht. Sie brauchen keine Angst zu haben. Er wird jedem einzelnen von Ihnen direkt in die Augen blicken. Damit er weiß, wer Sie sind, was Sie hierher geführt hat und was Sie sich von ihm erwarten. Er wird spüren, was Ihr Problem ist, er wird spüren, ob Sie krank sind und Heilung brauchen, er wird spüren, was Ihre Last ist. Und er wird Ihnen diese Last abnehmen. Er wird Sie von Ihrer Last befreien. Haben Sie keine Angst. Das Allesverändernde Auge wird niemals etwas tun, was Ihnen schaden könnte. Das Allesverändernde Auge wird Ihnen ein Geschenk machen. Das Geschenk der Veränderung. Für dieses Geschenk brauchen Sie nichts zu bezahlen. Sie brauchen sich dafür nicht zu revanchieren. Das heißt, revanchieren Sie sich, indem Sie die Stille respektieren. Sprechen Sie bitte nicht. Machen Sie keine unnötigen Geräusche. Stören Sie nicht die Konzentration. Nehmen Sie das Geschenk an, das Sie jetzt erhalten werden.

Er saß auf einem niedrigen, runden Hocker aus rosarotem Leder. Müde. Durch und durch müde. Wie ein altes Paar Schuhe. Er kämmte sich noch einmal die Haare. Die schwarzen Haare waren immer sein größtes Kapital gewesen. Und waren es immer noch. Selbst jetzt, als er schon längst den Höhepunkt seiner Karriere überschritten hatte. Auf diese Haare war er angewiesen. Auf seinen Reisen hatte er immer mehrere Bürsten dabei und sein spezielles Shampoo. Schneiden ließ er sich die Haare nur dann, wenn er wieder zuhause war, bei seinem Lieblingsfriseur in Zürich. Vielleicht blieben diese Haare, wer weiß, noch eine Zeit lang so. Sie zu färben, war nicht das Problem. Sie durften nur nicht weniger werden. Alles andere an ihm wurde ja schon weniger. Aus jedem einzelnen Teil des Ganzen entwich Kraft. Machte sich auf und davon. Zurück blieb, so kam es ihm vor, bloß ein geräumter Lagerplatz. Abgebranntes Gras. Und Müdigkeit. Trotzdem kämpfte er sich hoch. Jeden Tag. Er hatte schließlich einen Haufen Verträge abgeschlossen. Viele Menschen lebten von ihm. Von seinem Geld. Menschen, die ihm wichtig waren. Sie konnte er nicht im Stich lassen. Er war ja ein richtiges Unternehmen. Er hatte Angestellte. Er trug Verantwortung. Vergiss das nicht. Egal, wie du dich fühlst.
Der rosarote Hocker, auf dem er saß, stand hinter einem Vorhang, der von der Decke bis zum Boden reichte. Er hörte gar nicht, was Eva drinnen im Raum sagte. Aber wozu es hören wollen? Er wusste ja, was sie sagte. Sie trug immer denselben Text vor. Gleich würde sie kommen, um ihn zu holen. Hatte er die Schuhe geputzt? Er beugte sich vor und griff hinunter zu seinen Schuhen. Glatt. Makellos. Und das Hemd? War das Hemd gebügelt? Eva hatte bestimmt darauf geachtet, dass er ein gebügeltes anzog.
Die Hände hatte er gewaschen. Das wusste er. Gerade eben noch ein zweites Mal. Die Leute sahen ja auf alles mögliche. Starrten ihn an. Untersuchten ihn. Zählten wahrscheinlich seine Nasenhaare. Sie wollten ihm so nahe wie möglich sein. Ihm, der keine Nähe ertrug. Schon als Kind in der Schule war ihm zu viel Nähe unangenehm gewesen. Alles, was in einer Gruppe getan werden musste. Und alles, bei dem man sich den Gruppeninteressen unterordnen musste. In der Klasse oder im Turnsaal. Warum fiel ihm jetzt die Schule ein? Wahrscheinlich wegen dem niedrigen Hocker. So niedrig wie ein Stuhl aus dem Klassenraum einer Volksschule.
Es hätte alles auch ganz anders kommen können. Wenn er die Schule zu Ende gemacht hätte. Wenn er seine Ausbildung nicht abgebrochen hätte. Wenn er auf seinen Vater gehört und eine Tischlerlehre begonnen hätte. Aber er hatte nach Griechenland zurück gewollt. In ein Land, von dem er nichts wusste und in dem er bloß zufällig geboren worden war und sein erstes Lebensjahr verbracht hatte. Was bedeutete das schon? Warum war es ihm so wichtig gewesen, nach Thessaloniki zu ziehen? Er hätte in Zürich bleiben sollen. Aber gut, gut, das war schon lange nicht mehr zu ändern. Sein Vater lebte nicht mehr. Seine Mutter lebte nicht mehr. Sein Großvater in Thessaloniki lebte schon lange nicht mehr. Die dichten schwarzen Locken hatte er von der Familie mütterlicherseits geerbt. Sein Vater hatte schon mit dreißig eine Glatze bekommen, und dessen Vater ebenso. Glück gehabt. Der Zufall hatte es gut mit ihm gemeint. Im anderen Fall wäre er wirklich besser Tischler geworden.

Eva öffnete die Tür. Sie schob den Vorhang zur Seite und sagte: Du kannst jetzt hinein.
Ist gut, antwortete er. Gleich. Eine Minute noch.
Es ist voll, sagte Eva. Der ganze Raum.
Ist es still?
Eva nickte. Ja.
Wenn er etwas nicht ertrug, war das Unkonzentriertheit, Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit, Respektlosigkeit. Wenn Gespräche geführt wurden. Belanglose Gespräche, für die man den ganzen Tag Zeit hatte. Noch schlimmer war es, wenn geflüstert wurde. Als wäre man der Meinung, er würde das Flüstern nicht hören. Oder wenn mit den Augen Zeichen gegeben wurden. Oder mit den Fingern. Oder wenn jemand zur Seite sah. Oder sich mittendrin umdrehte. Manche schafften es nicht einmal, sich zehn Minuten lang zu konzentrieren. Warum kamen die überhaupt? Er hasste Disziplinlosigkeit.
Er stand vom Hocker auf. Legte die Bürste auf den Tisch. Zog die Hose nach unten, so dass sie auf den Hüftknochen saß. Straffte das Hemd. Und tupfte noch einmal Puder auf die Haut, damit sie im Scheinwerferlicht nicht so glänzte. Dann legte er den Kopf in den Nacken. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann war er so weit.

 

Ende des Textausschnitts

 

© Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor