Menu

Management des großen Gefühls

© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor

Wir laufen mit unserer Interessenspolitik durch die Stadt und läuten an allen Türen. Wir suchen Beschäftigung und Abwechslung. Wir müssen ständig etwas tun. Wir haben Ziele und wir wollen unsere Ziele erreichen. Es gibt immer was zu tun, lautet der Werbespruch bei Hornbach. Stimmt. Es gibt immer was zu tun. Unsere Interessenspolitik zeigt uns, wo Norden und wo Süden ist. Wir laufen durch eine Stadt, die schon längst unser Leben ist. Wir kennen die Hauptverkehrsadern und die Fußgängerzonen. Lebt man nur lange genug am selben Ort, findet man sich irgendwann dort auch zurecht. Die Straßen halten die Häuser auf Distanz. An der Höhe der Häuser erkennt man, was wichtig ist. Die Stadt ist geronnene Lebenszeit. Die Stadt ist Karriere. Das Leben ist Organisation. Um sich in dieser Stadt zurecht zu finden, gibt es einen Plan. Der Stadtplan ist unser Lebensplan. Mit dem Finger fahren wir die Straßen nach, die noch vor uns liegen. Danach kann der Plan zusammengefaltet und in die Tasche gesteckt werden. So viele Stockwerke die höchsten Häuser haben, so viele Jahre haben wir vor uns. Das heißt natürlich, Karrierejahre. Theoretisch kann man bis ins oberste Stockwerk gelangen.

Wir laufen mit unserer Interessenspolitik durch die Stadt und am Abend betreten wir eine Bar und fragen nach einem Zaubertrank. So etwas hätten wir gern, so einen Zaubertrank, so einen Stoff, der Träume schafft. Das heißt, der Realität schafft, wie wir sie uns erträumen. So eine Verwandlung hätten wir gern. Wir würden gern verwandelt werden. Behandelt und verwandelt. Aber selbstverständlich gibt es das nicht. Wir werden jedes Mal wieder abgewiesen, wir hätten es wissen müssen, wir wissen es doch. Es gibt keinen Zaubertrank. Es gibt kein anderes Leben, das sich aus einem Glas trinken lässt. Der Zaubertrank soll selbstverständlich ein Liebestrank sein. Aber wieder. Es gibt keinen Liebestrank. Einen Liebestrank kann man nicht bestellen. Auch wenn man noch so darum bettelt. So etwas gibt es nicht. Ist nicht lieferbar. Der Durst nach einem Liebestrank wird nicht gestillt. Und wie die Fragerei danach einem schon auf die Nerven geht. Die Liebe ist keine Zange mit orangefarbenen Griffen, die jedes Problem zu fassen kriegt.

Wir wollen verwandelt werden, aber nur für kurz. Wir wollen eine Verwandlung mit eindeutigem Anfang und Ende. Wir haben uns schon so daran gewöhnt, dass alles nach einer bestimmten Zeit wieder ein Ende hat. Wir wollen kleine Portionen. Portionen, die uns nicht lange im Magen liegen und den Körper schnell wieder verlassen. Wir haben uns schon so daran gewöhnt, dass eine Torte in Tortenstücke eingeteilt ist, und dass auf allen Lebensmitteln ein Ablaufdatum steht. Ich will nicht, dass die Marmelade, die ich heute morgen gekauft habe, kein Ablaufdatum hat, und dass sie mich überleben könnte, das wäre mir nicht recht, das würde mich deprimieren.

Wir müssen immer um den Tod herum, wie ein Segler um die Boje. Tristan und Isolde fahren geradewegs darauf zu. Weil sie alle Gesetze gebrochen haben, bleibt ihnen nichts anderes übrig. Aber gleichzeitig sehnen sie sich auch danach. Sehnen sich ganz seltsam nach der Nacht. In des Welt-Atems / wehendem All / ertrinken / versinken / unbewusst / höchste Lust! Es müsste jemanden geben, der ihnen zuruft: Der Tod ist das Gegenteil der Liebe. Er ist die Schere, die das Band zerschneidet. Der Tod kann nicht in Eurem Interesse sein. Warum versteht Ihr das nicht? Vom Tod kann ich nicht profitieren. Der Tod gehört nicht in mein Portfolio. Aber andererseits, den Zeitpunkt, zu sterben, selbst bestimmen zu wollen, das ist noch immer ungeheuerlich. Das ist noch immer eine Frechheit. Was für Tristan und Isolde die einzige Möglichkeit ist, ist für uns das letzte Mittel, der Gesellschaft eine Nase zu drehen. Da endet die Toleranz. Da hört sich alles auf, wenn einer von einer Brücke springt oder seinen Körper auf Eisenbahngleise legt. Das geht nicht, dass einer das selbst bestimmt. Selbstbestimmung geht hier bestimmt nicht.

Tristan und Isolde verlieben sich ineinander, statt einander umzubringen, und sie bringen einander um, statt einander zu lieben. Sie machen dauernd etwas falsch. Sie trinken das falsche Getränk, sie sind nicht vorsichtig genug, sie kommen zu spät. Alles läuft falsch. Die Geschichte läuft aus dem Ruder. Der Zaubertrank wirkt. Die Verwandlung beginnt. Die Verwandlung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Diese Verwandlung ohne Versicherungsschutz. Das Gefühl für den anderen wird größer und größer. Es wird zum ganz großen Gefühl. Tristan und Isolde, das ist das ganz große Gefühl. Von diesem großen Gefühl träumen auch wir. Dieses große Gefühl würden auch wir gern empfinden. Nein. Wollen wir unbedingt empfinden. Im innersten Inneren. Unser Leben hängt davon ab. Wir haben, so glauben wir, ein Recht darauf. Es bedeutet uns mehr als das Paradies. Dieses ganz große Gefühl. Dabei ist das doch gar nichts mehr für uns. Das Allzu-Große ist nichts mehr für uns. Das Übergroße ist uns viel zu groß. Diese Schuhe sind uns zu groß, dieser Urlaub ist uns zu teuer. Da verlieren wir uns, da verlieren wir unsere Koffer und verpassen unseren Anschlussflug. Außerdem haben wir ja auch noch viel anderes zu tun. Wir müssen mit der Zeit gehen und die Wohnung putzen und unsere Emails lesen.

Dieses große Gefühl können wir nicht mehr leben, deshalb müssen wir es konsumieren. In kleinen Portionen. So halten wir es aus. Im Kino und in der Oper. Dort sitzen wir dann und lassen dieses Gefühl in uns hinein. Lassen es durch die Tür in unser Haus, damit auch unser Haus hell und schön ist. Damit es zu leben und zu schweben beginnt. Ich brauche das. Ich brauche diesen Schuss. Diesen Schuss in die Venen. Diesen Schuss ins Herz. Wir brauchen das, um am nächsten Tag in der Früh wieder aufstehen zu können. Wir brauchen das für den Arbeitstag. Der verlangt nach neuen Menschen, nach erneuerten, nach frischen, erfrischten, nach Menschen mit großen Gefühlen. Wir bringen uns nicht um, damit wir täglich für das Büro zur Verfügung stehen. So viel Energie gibt uns das große Gefühl. Und diese Energie geben wir dann auch gern weiter. Wir haben sie zu verschenken. Diese Energie treibt die Wirtschaft an.

Das große Gefühl ist der Schlüssel zu unserem Herzen und der Schlüssel zum Erfolg, der erfolgreiche Verkauf. Aber was soll ich tun? Ich brauche das nun einmal. Da ist es doch gleich besser, wenn wir auch das lieben, wofür wir bezahlen. Ich brauche dieses Gefühl, ich kann ohne es nicht mehr leben. Das ist unsere Mathematik. Ich brauche die ganz große Zahl, um zu wissen, wie klein meine eigene ist. Meine Zahl ist klein, aber mein. Mein, mein, mein. Ich brauche einen Pullover, der mir passt. Ich brauche ein Haustier, dem ich ein Kunststückchen beibringen kann. Ich brauche die Gefahr, aber die Gefahr muss überschaubar sein, nicht zu groß darf es sein, das Meer, nicht unendlich groß, nicht unendlich tief, nicht unendlich blau. Wichtig ist das richtige Maß. Tristan und Isolde kennen kein Maß. Sie lieben und begehren ohne jedes Maß. Maßlosigkeit zieht die Todesstrafe nach sich. Was für ein Eigensinn, was für eine Anmaßung, dass sie sich auch noch nach dieser Strafe sehnen. So sind sie unverwundbar, der Macht der anderen, der Politik der anderen entzogen.

Wir laufen mit unserer Interessenspolitik durch die Stadt und am Abend sehen wir im Theater dem Sterben zu, wo an unserer Stelle, oder besser gesagt, für uns gestorben wird. In endlos langen Stunden, als gäbe es uns gar nicht, als wären wir nicht im selben Raum und in derselben Zeit. Bloß das Bühnenfenster ist geöffnet, und wer will, kann teilhaben am Sterben. Ganz vorne stehen die Hohepriester und winken. Ganz vorne im Licht wird gestorben. Die Schauspieler zeigen, wie das geht. Wir könnten es danach auch so machen, wir kennen ja jetzt die Technik. Aber halt! Wir brauchen nicht. Wir brauchen nicht mehr zu sterben.

Tristan und Isolde sterben auf einer Bühne und dieses Sterben ist Musik. Ganz und gar. Wir in unserem Leben rufen bei allem und jedem nach der richtigen Begleitmusik. Wir wollen zu jeder Handlung, zu jedem Ereignis den passenden soundtrack. Der soundtrack sorgt für das in diesem Augenblick richtige Gefühl. Der richtige song zur richtigen Zeit kitzelt in uns genau das richtige Gefühl hervor. Aber gut. Gut. Warum nicht? Besser ein geborgtes aber großes Gefühl als ein kleines. So viel Diebstahl darf sein. Das heißt, wir haben ja eigentlich dafür bezahlt. Wir haben für jeden einzelnen Musiktitel bezahlt. Schon lange im voraus. Wir haben für die Kultur bezahlt, die wir am Totenbett dringend brauchen. Wir haben dafür bezahlt, nicht allein zu sein. Wir sind in die Kirche und in die Disco gegangen, ins Theater und ins Gasthaus. Jetzt haben wir ein Recht darauf, nicht allein zu sein. In der Stunde unseres Todes werden wir eine wirklich gute Begleitmusik brauchen. So verwöhnt wie wir sind. In der Stunde unseres Todes wird uns jemand managen müssen.

So starben wir / um ungetrennt / ewig einig / ohne End‘ / ohn‘ Erwachen / ohn‘ Erbangen / namenlos / in Lieb‘ umfangen / ganz uns selbst gegeben / der Liebe nur zu leben! Wir aber werden fern voneinander sterben, getrennt, in getrenntesten Betten in getrenntesten Krankenhäusern in getrenntesten Städten. Am Nachtkästchen werden andere Bücher liegen, wird eine andere Lampe Licht spenden, neben dem Bett werden Krankenschwestern mit anderen Namen und Frisuren stehen. Alles anders. Alles unterschiedlich. Alles individuell. Zugeschnitten auf Individuen. Auf besonders individuelle Individuen. Ich sehe schon, der Konsum hört nicht auf. Der hört einfach nicht auf. Selbst in der Stunde des Todes ist das große Gefühl noch immer viel zu groß für uns.