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Riesen vor der Tür

© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor

In Zukunft werden die Autos von Tesla noch intelligenter sein. In Zukunft wird Schweinefleisch in China noch teurer sein. In Zukunft werden die Fleischteller und Weingläser bei IKEA noch billiger sein. In Zukunft wird der Kiebitz von unseren Wiesen und Feldern verschwunden sein. In Zukunft wird das Rauchen noch ungesünder sein. In Zukunft werden noch mehr Menschen eine Kreuzfahrt buchen. Während das Klopapier auf den Kreuzfahrtschiffen eine noch schlechtere Qualität haben wird. In Zukunft werden in den Geschäften für Künstlerbedarf immer weniger Ölfarbentuben mit gelb verkauft werden. Während in Amsterdam nächstes Jahr noch mehr Besucher vor Van Goghs Sonnenblumen von 1889 stehen werden. In Zukunft wird in Italien der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Pasta um noch einmal zehn Prozent steigen. Während in Großbritannien in Kürze ein noch schwärzeres Schwarz als Vantablack entwickelt werden wird. In Zukunft werden in der EU noch mehr Küken geschreddert werden. Während in Deutschland zur selben Zeit noch mehr Menschen sagen werden: Das schmeckt lecker.

In Zukunft werden Geburtstagstorten kalorienärmer sein. Aber es werden weniger Torten in Gesichter von Politikern und Unternehmern fliegen. In Zukunft werden weltweit mehr Kinder mit einem IQ über 150 geboren werden. Und mehr Eltern werden sich für ihr Neugeborenes einen Kinderwagen im Retro-Look kaufen. In Zukunft werden die luxuriösen Yachten von Lürssen noch luxuriöser sein. Und werden noch mehr solcher Yachten vom Stapel laufen. In Zukunft wird Kunst nicht mehr als Propagandawaffe instrumentalisiert werden können. Obwohl schon längst ein neuer Kalter Krieg begonnen hat. In Zukunft werden in Russland mehr Naturdiamanten und in China mehr synthetische Diamanten hergestellt werden als je zuvor. Und die Diamantenhändler in Antwerpen werden sagen: Die neuen Diamanten glitzern noch schöner als die alten.

In Zukunft werden Flip-Flops nur mehr eine Saison lang halten. Während Spracherkennungssoftware in zehn Jahren sämtliche weltweit gesprochenen Dialekte erkennen wird. In naher Zukunft wird der Helle Wiesenknopf-Ameisenbläuling ausgestorben sein. Aber wer kennt schon den Hellen Wiesenknopf-Ameisenbläuling? In Zukunft werden weniger große Keilrahmen verkauft werden. Weil weniger Künstler große Keilrahmen brauchen werden. Während gleichzeitig die Sehnsucht, sich in einem romantischen Lebensgefühl zu verlieren, wieder zunehmen wird. In Zukunft wird es noch schwieriger sein, die stetig steigenden Rüstungsausgaben zu ignorieren und bei den Militärparaden in Peking und Moskau den Kopf zur Seite zu drehen und die Wolken über der Stadt zu betrachten. In Zukunft wird 007 ein Deospray von L’Oréal verwenden. In Zukunft werden die Rückspiegel bei der S-Klasse nur freundliche Gesichter zeigen. In Zukunft wird Sand noch schneller durch die Finger rieseln. In Zukunft werden Rasierapparate genau so klingen wie früher einmal die Bienen. Aber wer wird sich noch an Bienen erinnern können?

In Zukunft wird es noch mehr olympische Disziplinen geben. Auch wenn niemand weiß, warum eigentlich. In Zukunft wird es nicht mehr möglich sein, sich für den alleinigen Erfinder einer neuen Kunstrichtung zu halten. Mag dieses Gefühl auch erhebend sein. Aber damit ist es vorbei. In Zukunft wird Belvedere Wodka noch samtiger schmecken und wird der Grande Cuvée von Krug noch mehr Perlen pro Kubikzentimeter enthalten und werden noch mehr Menschen sagen: Wer viel arbeitet, muss sich auch hin und wieder etwas leisten.

In Zukunft wird es weltweit noch mehr Rechenleistung geben. Weil das unbedingt notwendig ist. In Zukunft werden in China noch mehr Baumwollsocken mit Karomuster hergestellt werden. Weil der amerikanische Markt das einfach verlangt. In Zukunft werden im Pazifik wieder mehr Wale geschlachtet werden. Weil das ganz einfach nicht schwierig ist. Noch nie war Logik so kalt und unbarmherzig. Aber was soll man tun? Noch nie waren Mobiltelefone mit so guten Kameras ausgerüstet. Noch nie konnte man so schöne Selfies machen. Noch nie gab es auf der Welt so viele Nutztiere. Noch nie haben die Nutztiere die Menschen so gehasst. Noch nie gab es in London und Frankfurt so viel Geld. Noch nie hat Geld so wenig gestunken wie heute. Noch nie waren Flugreisen so billig. Im nächsten Jahr wird ein Flugticket Frankfurt Tokio weniger kosten als eine Hand voll Reis. Noch nie waren die Riesen draußen vor der Tür so bekannt. Noch nie wussten wir vom Unbekannten so viel. Noch nie hat es so viele Rankings und Listen gegeben. Noch nie hat es so viele verschiedene Kaffeemarken gegeben. Noch nie erschienen im August die Wolken über dem Großglockner so zerrissen. Und noch nie erschienen uns unsere alten Freunde so sehr in alle Wind verstreut.

In Zukunft wird alles nur mehr eine Frage des richtigen Managements und einer effektiven Verwaltung sein. In Zukunft wird es keine großen Erfindungen mehr geben. Und keine gefährlichen Abenteuer. Schade. Aber unausweichlich. In Zukunft werden die Kieselsteine an den Stränden der französischen Mittelmeerküste wieder weniger rund und stattdessen wieder kantiger sein. In Zukunft werden noch mehr Menschen mit Adipositas zu kämpfen haben. Während die Industrie noch mehr Lebensmittel auf den Markt bringen wird, die so schmecken wie früher. Was sich die Konsumenten ausdrücklich wünschen. In Zukunft wird es noch schwieriger sein, die Augen vor Menschenrechtsverletzungen zu schließen. Auch wenn wir gelernt haben: Wer Geld verdienen will, muss seine Augen schließen können.

In naher Zukunft werden noch mehr Exo-Planeten entdeckt werden. In naher Zukunft wird Apple Daimler übernehmen und Alphabet wird BMW kaufen. In naher Zukunft werden rote Äpfel nicht mehr von gelben Bananen zu unterscheiden sein. In Zukunft wird es noch schwerer sein, zu glauben, dass einmal alles besser sein wird als im Augenblick. In Zukunft wird es noch schwerer sein, an den Fortschritt zu glauben. Oder an den Jazz. Oder an das Kino. Oder an den Frieden. Oder an das Gute. Et cetera. In Zukunft wird es noch schwerer sein, dem amerikanischen Präsidenten etwas zu glauben. Wir müssen diesen Planeten retten, wir haben keinen anderen, werden in Zukunft noch mehr Menschen sagen. Während Prada wieder auf neongelbe Lederröcke setzen wird. Und Birkenstock Paris erobern wird.

In der Zukunft wird Wirtschaftswachstum noch wichtiger sein, wobei noch mehr Konsens darüber herrschen wird, dass mit dem Wachstum endlich Schluss sein müsse. Es muss Schluss damit sein. So geht es nicht weiter. So kann es nicht weitergehen. In der Zukunft werden alle ganz genau wissen, worauf es ankommt. Die Zukunft wird ungemütlich werden. Kalt und nebelig. Aber jetzt nicht nachlassen. Jetzt nicht den Mut verlieren. Bloß nicht die Arme sinken lassen. Bloß nicht alles über den Haufen werfen. Jetzt nicht Selbstmord begehen. Jetzt nicht aufgeben und das Ganze abblasen. In Zukunft werden die Aktien von Coca Cola nur mehr einen Bruchteil dessen wert sein, was sie einmal wert gewesen sind. In Zukunft wird es immer noch Menschen mit einem Cholesterinwert von über 250 geben. In Zukunft werden Taufliegen nicht mehr nur morgens und abends, sondern auch zu Mittag und in der Nacht unterwegs sein. Es wird in Zukunft einfach mehr zu tun geben. In Zukunft werden Banken in der Form, wie wir sie jetzt kennen, nicht mehr existieren. In Zukunft wird alles anders sein. Aber jetzt nicht zu weinen beginnen. Jetzt nicht verzweifeln. Jetzt warm angezogen bleiben. Jetzt das richtige Betriebssystem wählen.

In Zukunft werden die meisten von uns weniger haben, als sie einmal hatten. In Zukunft werden sich die meisten von uns die Butter auf dem Brot nicht mehr leisten können. In Zukunft werden sich die meisten fragen: Wie konnte es nur so weit kommen? Aber jetzt nicht irre werden. Jetzt nicht drogensüchtig werden. Jetzt Haltung bewahren. Das Wichtigste ist, zu konsumieren. Der private Konsum ist unsere einzige Rettung. Jetzt nicht depressiv werden. Depressionen würden zum sicheren Untergang führen. Jeder Wirtschaftsforscher wird dasselbe sagen. Bloß nicht aufhören fernzusehen. Bloß nicht aufhören, die Lieblingsserie zu schauen. Bloß nicht den falschen Politikern applaudieren. Bloß nicht das Kleingedruckte auf den Lebensmittelverpackungen lesen. Einfach nicht daran denken. Einfach alles verdrängen. Einfach nur mehr den ganzen Tag Minecraft spielen. Einfach nur mehr den ganzen Tag in Achtziger-Jahre-Klamotten herumlaufen. Einfach nur mehr den ganzen Tag in Kisten mit Vinyl-Platten stöbern.

Die Mietpreise werden nicht mehr fallen. Benzin wird nie wieder so billig sein wie es einmal war. Ein wirksames Medikament gegen Alzheimer wird noch lange nicht auf den Markt kommen. Das Pensionssystem wird demnächst zusammenbrechen. In hundert Jahren werden sämtliche Tierarten ausgerottet sein. Beim Lotto wird nächstes Jahr nur vier Mal die Zahl 41 gezogen werden. In der Straße, in der du wohnst, wird es auch im nächsten Jahr nicht mehr Parkplätze geben. Das Freibad in der Stadt, in der du geboren wurdest, wird leider nicht wieder aufgesperrt. Unsere Kinder werden es einmal nicht besser haben. Wir werden leider niemals klüger werden. Irgendwann wird doch jemand auf den roten Knopf drücken. Die Wahrscheinlichkeit, dass du im Louvre in dem Raum, in dem die Mona Lisa hängt, einmal der einzige Besucher sein wirst, ist gering. So gering wie die Wahrscheinlichkeit, dass du in der Lotterie der Wiedergeburt als Thronfolger oder Thronfolgerin auf die Welt kommen wirst. Dagegen ist die Wahrscheinlichkeit, dass die nächste Generation nicht mehr weiß, was früher einmal ein Bleistift gewesen ist, ziemlich hoch.

Niemals wieder werden wir an die Existenz von Landeplätzen für Außerirdische glauben können. Niemals wieder werden wir jemandem glauben können, der behauptet, über tausend Kilometer hinweg Suppenlöffel verbiegen zu können. Niemals wird das Klima ganz von selbst wieder in Ordnung kommen, ohne dass wir dafür unseren ganzen Lebensstil ändern müssen. Niemals wird sich das Schicksal zum Guten wenden, wenn wir nicht alles dafür tun. Man könnte jetzt noch das beste Orakel der Welt befragen. Das beste Orakel der Welt wird sagen: Ich kenne die Zukunft. Und ich kann euch die Zukunft vorhersagen. Aber, ganz ehrlich, ihr kennt die Zukunft doch selbst. Genau so gut wie ich. Die Ziele sind bekannt. Die Aufgaben sind definiert. Jeder weiß, was zu tun ist. Und es wird ganz schön viel zu tun sein. Für die vielen Aufgaben wird man sehr viel Kraft und Durchhaltevermögen brauchen. Es wird eine Sisyphos-Arbeit sein. Woher man die Motivation für eine solche Arbeit nehmen soll, weiß ich allerdings nicht. Man müsste grundlos und exzessiv optimistisch sein. Woher die Neugier und der Optimismus kommen sollen, jetzt, wo die Zukunft allen so bekannt ist, weiß ich nicht. Ich habe leider keinen Optimismus zu vergeben. Ich bin bloß ein Orakel.