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Niemand kann allein einen Gedanken zu Ende denken

© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor

Über den Abstand zwischen Text und Figur

Der Text ist nicht der Name und das Foto und die Sozialversicherungsnummer einer Figur. Text und Figur sind nicht deckungsgleich. Es gibt Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten, aber keine Identität. Der Text ist nicht der Identitätsausweis, den eine Figur vorzeigen kann. Niemals verschwindet das eine im anderen und geht im anderen auf. So, dass man von dem einen nichts mehr sehen kann und gar nicht weiß, dass es jemals dagewesen ist. Der Text gehört nicht der Figur. Er ist nicht das Eigentum einer Figur oder eines Darstellers oder Performers. Er ist aber auch nicht das Gegenteil. Er ist keine Ware im Kreislauf von Angebot und Nachfrage. Er hat keinen Preis. Er kann nicht gekauft, gebraucht und anschließend weggeworfen werden. Er kann auch nicht recycelt werden. Die Bühne ist kein Markt, wo abends mit Text gehandelt wird und wo der Meistbietende den Zuschlag erhält. Der Text ist ein Gebrauchsgegenstand, der nach dem Gebrauch nicht entsorgt, sondern von anderen neuerlich gebraucht wird. Er ist ein Schlüssel, mit dem man Schrauben festziehen oder lösen kann. Er ist eine Zange, ein Hammer, eine Säge. Er ist ein Werkzeug für alle. Wer immer damit etwas bewerkstelligen will. Weil der Text nie einer Figur allein gehört, besteht zwischen der Figur und dem Text immer ein Unterschied und Abstand. Es ist ein Sicherheitsabstand zum Vorteil für beide Seiten. Weil es diesen Abstand gibt und man diesen Abstand niemals völlig zum Verschwinden bringen kann, gehört der Text ebenso derjenigen Figur, die der ersten am nächsten steht. Sie hat dasselbe Recht auf den Text. An diesen Nachbarn, an diesen nächsten in der Reihe soll der Text weitergegeben werden. Wie der Stab beim Staffellauf. Jeder verfügt über seinen Text nur eine bestimmte Zeit. Zum entsprechenden Zeitpunkt muss der Text weitergereicht werden. So wandert er von einer Hand zur anderen. Und man muss ihn so weitergeben, wie man ihn selbst erhalten möchte. Wer ihn auseinander nimmt, muss ihn danach wieder zusammensetzen. Der Text, der ohne Gebrauchsanweisung geliefert wird, verlangt nach Figuren, die nicht nach Gebrauchsanweisungen rufen. Sondern die ihn auspacken und ausprobieren. Weil der Text niemandem ganz und niemandem allein gehört, wird jede Figur zum Teil des Gedankengangs. In jedem Text steckt ein Gedanke wie ein Geldschein in einer Brieftasche. Er ist die Währung und die Kaufkraft. Keine Figur kann allein einen Gedanken zu Ende denken. Der nächste in der Reihe muss ihn weiterdenken und wird damit auch nicht zu Ende kommen. Der übernächste muss ihn übernehmen. Ein Stück braucht keine Geschichte zu erzählen. Ich bin noch nie ins Theater gegangen, um eine Geschichte zu hören. Auch nicht um Figurenentwicklung zu erleben. Ich will stattdessen eine lange Reihe von Fragen hören. Jeder Gedanke ist eine Frage, auf die man noch keine Antwort weiß. Könnte einer allein einen Gedanken zu Ende denken, hätte er damit auch alle Probleme gelöst. Weil die Gedanken nicht in der Luft hängen, sondern an den Ästen von Geschichten, sind ohnehin immer auch die Geschichten vorhanden, ohne dass sie erzählt werden müssen. Geschichten und die Fragmente von Geschichten brauchen wir für die Konstruktion einer Biographie. Auf welche Weise uns die Geschichten zugestoßen sind, ist reiner Zufall. Unabhängig von privatem Glück und dem Glanz einer Karriere oder dem dunklen Licht des Gescheitertseins, hätte alles auch ganz anders kommen können. Auch bei der sorgfältigsten Konstruktion bleibt jede Biographie ein Zufallsprodukt. Im Nachhinein wird alles so zusammengestellt, dass jeder den Eindruck hat, auf diese Weise hat es von Anfang an Sinn gemacht. Jede Figur erhält einen Text, der etwas mit ihrer Vergangenheit und ihren Zielen zu tun hat und trotzdem kann dieser Text zur selben Zeit genau so gut von einer anderen Figur mit einer anderen Vergangenheit und anderen Zielen gesprochen werden. Wie wir sprechen, ist das Produkt von Ort und Zeit und Klasse, was wir sagen, ist das Ergebnis der Anstrengung, etwas verstehen zu wollen, was immer eine Kleidergröße zu groß oder zu klein ist. So wie jede Figur einen Text spricht, der zu ihr gehört, aber doch nie zu hundert Prozent ihr gehört, so gehört auch alles, was uns zustößt, zu unserer Biographie und gehört doch nicht unbedingt zu unserem Leben. Der Abstand zwischen Figur und Text zeigt, dass alles auch ganz anders sein könnte. Der Abstand zwischen Figur und Text hat in der körperlichen Wirklichkeit des Alltags seine Entsprechung im Abstand zwischen Biographie und Leben. Das Ich-Gefühl und die bohrenden Fragen wandern zwischen Biographie und Leben hin und her. Eine Biographie gehört zu einer Figur, das Leben gehört allen Figuren auf der Bühne gemeinsam.