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Kalter Entzug

© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor

Über die Videoarbeit XXX_Movie von Sonja Gangl

Die Erregungshilfsmittelindustrie hilft, wo sie kann. Jedem und zu jeder Zeit. Besonders effektiv mit Filmen. In dem Film Deep Throat ist der Ort der Lust verloren gegangen und muss wiedergefunden werden. Aber statt zwischen den Beinen wird er bei der Hauptdarstellerin zur Verblüffung des untersuchenden Arztes tief in der Kehle entdeckt. In diese Tiefe kann – so die These – nur der lange Schwanz eines Mannes vordringen. Da trifft es sich gut, dass die bis dahin sexuell unbefriedigte Protagonistin in diesem Zusammenhang über besonders akrobatische Fähigkeiten verfügt. Sie vermag sich Schwänze besonders tief in ihr tiefes Kehlchen einzuführen. Auf diese Weise wird aus einer Pionierin der Lust im Lauf des Films eine befriedigte Frau. Und indem sie zur Assistentin des Arztes aufsteigt, schafft sich diese frühe Vorläuferin einer Arbeitskraftunternehmerin durch ihre Tätigkeit wie nebenbei auch ihren eigenen Arbeitsplatz. Ein unbefriedigtes Bedürfnis und eine gefühlte Leerstelle stehen am Beginn, Empowerment und Selbstbestimmung am Ende des Films. Der Weg zum eigenen Ich führt also über die Selbstvergewisserung der Lust und das Licht der Aufklärung in Form eines weißen Ärztekittels. So weit der dümmliche, aber dramaturgisch geniale Plot.
Gedreht wurde der Low-Budget-Film neunzehnhundertzweiundsiebzig. Sechs Tage in Florida haben dafür gereicht. Das Drehbuch dazu geschrieben und die Regie dabei geführt hat der Ex-Friseur Gerard Damiano. Die Hauptdarstellerin nannte sich Linda Lovelace. Der ewig junge Dr. Young wurde von Harry Reems dargestellt. Zuerst kam der Film in die Kinos am Times Square, bevor er dann bis in die hintersten Kinos des hintersten und prüdesten Amerika der Nixon-Jahre vordrang. Deep Throat wurde zu einem Meilenstein des Pornofilms, weil er Pornofilme mainstreamfähig machte. Er öffnete die Türen der normalen Kinos für Pornofilme und er öffnete dem Bürgertum die Tür zur Pornographie. Mit ihm begann the Golden Age of Porn und der für lange Zeit wirkungsmächtige Porn Chic. Das Geld für die Produktion des Films kam von der Mafia und selbstverständlich floss der Gewinn wieder an die Mafia zurück. Den Herstellungskosten von fünfundzwanzig tausend Dollar stand ein Einspielergebnis von sechshundert Millionen gegenüber. Deep Throat gilt als der profitabelste Film aller Zeiten.
Was sieht man überhaupt in diesem Film? Eine Frau mit einer besonderen Begabung für Fellatio und eine Reihe von Männern, die diese Begabung zur Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche nützen. Man sieht einen weiblichen Mund in Großaufnahme, der dabei ist, einen Schwanz zu verschlucken. Rund um dieses emblematische Zentrum des Films drängeln sich nackte Körper, die in verschiedenen und hinlänglich bekannten Stellungen miteinander kopulieren. Alles zu dem Zweck, den Betrachter des Tableaus zu erregen. Je nach Tagesverfassung des Betrachters, je nach seinen Vorlieben und seinem Geschmack gelingt das dem Film einmal besser, einmal schlechter. Aber den Betrachter sexuell zu erregen, ist sein einziger Zweck. Ein Porno zielt ausschließlich auf Wirkung. Alles, was diese Wirkung beeinträchtigen könnte, mindert die Qualität des Films. Das vorherrschende Prinzip des Pornos ist die Steigerung. Es gilt, alles auszuschließen, was die unmittelbare Wirkung auf den Betrachter verkleinern könnte, und alles zu verstärken, was die Wirkung steigern kann. Es gilt, den Weg der Maximierung zu gehen. Kein anderes Genre ist so eindimensional, in keinem anderen Genre gilt bloß diese eine Regel, die um jeden Preis befolgt werden muss. Der Keller des Subtextes und das Dachgeschoß der Meta-Ebene machen den Porno kleiner und schwächer. In letzter Konsequenz wertlos. Die Schwefelsäure der Ironie löst ihn auf.
Was sieht man in Sonja Gangls Filmarbeit XXX_MOVIE? Im Verlauf von sechzig Minuten, entsprechend der Länge des Originals, wandert ein Sichtfenster über den Bildschirm, in dem der Film Deep Throat zu sehen ist. Die vom Verfahren des Letterboxing her bekannten schwarzen Balken am oberen und unteren Rand des Bildschirms sind fast bis zur Mitte des Bildschirms erweitert, so sehr, dass nur ein schmaler Sehschlitz übrig bleibt. Mit diesem Ausschnitt, der den Film gleichsam in der Zeit abtastet, muss sich der Betrachter zufrieden geben. Wenn Pornographie Schau-Lust im reinsten Sinn ist, dann ist es die Strategie von Sonja Gangl, dem Schauen für eine Stunde lang die Lust zu nehmen und ihm dafür ein Werkzeug der Analyse in die Hand zu geben, um wieder einmal zu erkennen, wie es sich die Welt konstruiert. Sehen ist ein Produktionsprozess. Das kann man nicht oft genug zeigen. Die Wirkung des Gesehenen überdeckt selbstverständlich, wie Sehen funktioniert. Das Produkt verdeckt den Produktionsprozess. Anders wären Genießen und Lust auch nicht möglich. Damit aber das Sehen auch wirklich Lust sein kann, müssen die Bilder darüber hinaus mit Klischees angereichert sein. In Pornos wuchern die Klischees. An allen Ecken und Enden, an allen lustverzerrten Gesichtern und gedehnten Körperöffnungen springen die Klischees aus der Kiste. In Sonja Gangls Cover-Version von Deep Throat werden zuallererst einmal die Klischees des Pornofilms mit der Heckenschere der schwarzen Balken zurecht gestutzt.
Als pornografische Bilder noch zensuriert wurden, geschah das mittels eines schwarzen Rechtecks. Männliche und weibliche Geschlechtsorgane erhielten einen schwarzen Fleck. Eine kleine schwarze Bettdecke bedeckte die Orte der Lust. Was gleichzeitig bedeutete, dass die so bedeckte Stelle ein Ort der Wahrheit sein musste. Mehr noch: der Ort einer authentischen Wahrheit. Warum hätte man sie sonst bedecken müssen? Und es bedeutete von da an auch, dass jetzt jeder beliebige Ort mit einem schwarzen Balken bedeckt werden konnte, um zu suggerieren, dass sich darunter eine Wahrheit verbarg. Verbrecher wurden mit einem schwarzen Balken über den Augen markiert. Genauso wie die Opfer dieser Verbrecher. Vorgeblich, um ihre Identität zu schützen, in Wirklichkeit, um zu versichern, dass die Abgebildeten auch tatsächlich jene Personen waren, von denen im Text die Rede war. Einer Lüge hätte man nie die Augen bedecken müssen. Diese Authentifizierungsstrategie wurde zu einem praktikablen Instrument, Gesichtern und gesellschaftlichen Verhältnissen eine Wahrheit zu verleihen, die sie sonst vielleicht nie hätten.
Sonja Gangl erweitert die schwarzen Balken des Letterboxing bis zum Extrem, bis kurz vor den Punkt, an dem sich die Balken zu einer Fläche schließen würden, und gewinnt so gleichsam einen negativen Authentifizierungsbalken. Dieser durchsichtige Balken verdeckt keine Wahrheit mehr und erzeugt auch keine Wahrheit mehr, sondern generiert eine Lüge. Er behauptet, dass unter ihm eine Lüge verborgen sei. Unter diesem Balken steckt eine Lüge. Unter dem Sichtbaren ist eine Lüge zu sehen. Was nichts anderes heißt, als dass das Sichtbare selbst eine Lüge ist. Der negative Authentifizierungsbalken suggeriert nun, dass genau das, was wir sehen, eine Lüge ist. Die Lüge ist offenbar.
Das kann uns nicht gefallen. Wir wollen nicht, dass alles eine Lüge ist. Und wir wollen auch keinen FKK-Strand der Wahrheiten und Lügen. Wir wollen Lügen als Lügen entlarven und dabei Wahrheiten entdecken. Wir wollen, dass unter jedem Stein eine Wahrheit liegt. Wir wollen die Schätze der Wahrheit heben.
Andererseits: Wenn es so leicht ist, Wahrheiten herzustellen, wenn man bloß einen schwarzen Balken dafür braucht, wenn jeder Ungeübte und Amateur eine Wahrheit verfertigen kann, wenn wir mit unseren glatten Schuhen so leicht aufs Eis geführt werden können, ist es dann nicht besser, bei den Lügen zu bleiben? Wenn man im Wald so schnell in die Falle der Wahrheiten tappen kann, ist es dann nicht besser, zu Hause bei den Lügen zu bleiben und bloß mehr die Anzahl der Lügen zu zählen? Ist es nicht besser, nicht mehr nach Wahrheiten schürfen zu müssen, ist es nicht besser, von dieser Mühsal befreit zu sein, zumal sich diese Wahrheiten irgendwann ohnehin als saure Erfindungen herausstellen werden?
Porno ist vierundzwanzig Mal in der Sekunde Wirkung. Und ein Aufruf, sich ganz der Wirkung zu überlassen. Porno ist eine Gesundheitspraxis. Porno ist eine Entspannungsübung. Porno hat kein revolutionäres Potential. Es ist vergeudete Zeit, in Pornos noch immer nach einer Wahrheit zu suchen. Aber es ist niemals vergeudete Zeit, immer wieder zu erkennen, wie der Körper unter allen Umständen jede Lüge so lange drehen will, bis er irgendeine Wahrheit darin gefunden hat. Der Körper ist süchtig nach Wahrheit. Der Körper will sich Wahrheit beschaffen und sich Wahrheit spritzen. Er will auf keinen Fall ohne Wahrheit leben. Und er wird sich so lange Wahrheit zuführen, bis er sich um den Verstand gebracht hat. Der wahrheitssüchtige Körper bräuchte dringend eine Therapie. Einen kalten Entzug. Das zeigt die Arbeit von Sonja Gangl.