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Familien Unternehmer Geister

Christine Diensberg, Ute Fiedler, Tjark Bernau und Martin Herrmann in „Familien Unternehmer Geister“, Theater Augsburg 2011
Regie: Ramin Anaraki
(Foto: Nik Schölzel)

© S. Fischer Verlag, Aufführungsrechte S. Fischer Verlag Theater & Medien
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Textausschnitt

LEONIE Schon wieder einmal heißt es, unserer Firma ginge es nicht gut. Schon wieder einmal heißt es, unsere Firma sei nicht gesund. Ich weiß nicht, ob das stimmt oder nicht. Mir sagt man nicht alles. Da ich die Firma nie leiten werde, erfahre ich auch nie die ganze Wahrheit. Mein Bruder wird einmal die Firma übernehmen. Wenn es wirklich stimmt, dass die Firma wieder einmal am Abgrund steht, würde ich gern wissen, warum. Warum? Die Firma ist eine gute Firma. Sie ist unser ganzer Stolz. Unser stolzes Schiff. Unser schönes, großes Schiff, das auf allen Meeren fährt und die ganze Welt umrundet. Ich liebe unsere Firma. Sie sorgt für uns. Sie kümmert sich um uns. Sie macht uns reich. Es heißt, wir hätten einen falschen Kurs eingeschlagen. Es heißt, wir müssten das Steuer herumreißen. Aber eigentlich sei es dafür schon zu spät. Eigentlich sei die Lage aussichtslos. Es heißt, die Firma sei bald in Konkurs. Unser Kurs führe zum Konkurs. Aber das glaube ich nicht. Das glaube ich nie. Das sind bloß Gerüchte. Das kommt von Menschen, die uns um unsere Firma und unser Geld beneiden. Man darf nicht schlecht über die Firma reden. Sie ist nicht krank. Sie ist nicht böse. Sie hat einen guten Charakter. Sie ist unser Grund und Boden. Sie ist unser Haus und Garten. Sie ist die Luft, die wir atmen. Sie ist alles, was wir haben.

MICHAEL Übernimm endlich die Firma.

KATJA Darauf wartest du doch schon so lange.

MICHAEL Übernimm jetzt endlich die Firma.

KATJA Jetzt ist der richtige Zeitpunkt dazu.

MICHAEL Du musst jetzt die Firma übernehmen.

KATJA Freust du dich? Freust du dich eigentlich darüber?

LEONIE Nie kannst du dich über etwas freuen, Jannis.

MICHAEL Es war immer klar, dass du einmal die Firma übernehmen wirst.

KATJA Schließlich bist du unser Sohn. Du bist der logische Nachfolger.

LEONIE Und du bist jetzt im richtigen Alter.

MICHAEL Übernimm die Firma und übernimm Verantwortung.

JANNIS Nein.

MICHAEL Was heißt das?

KATJA Was meinst du damit? Ich verstehe dich schon wieder einmal nicht. Ich verstehe sehr oft nicht, was du mit dem, was du sagst, eigentlich meinst.

LEONIE Niemand versteht dich, Jannis. Das war schon immer dein Problem.

JANNIS Ich werde die Firma nicht übernehmen.

MICHAEL Wir sind ein Familienunternehmen und ein Familienunternehmen wird von jemandem aus der Familie übernommen.

KATJA Wir sind eine innovationsfördernde und fehlertolerante Unternehmerfamilie. Und eine innovationsfördernde und fehlertolerante Unternehmerfamilie bringt einen Nachfolger hervor.

MICHAEL Übernimm jetzt endlich die Firma.

LEONIE Du bist jetzt an der Reihe. Und tanz nicht aus der Reihe.

KATJA Freu dich doch darüber. Ich verstehe nicht, dass du dich nicht freust.

MICHAEL Sei dankbar dafür.

JANNIS Ich werde die Firma nicht übernehmen.

KATJA Das hast du schon gesagt. Das hast du auch schon vor einer Woche einmal gesagt.

MICHAEL Dein Großvater hat die Firma gegründet. Er hatte die Idee. Und er hatte den Mut dazu. Und dann hat dein Großvater die Firma an mich weitergegeben. So wie ich sie jetzt an dich weitergebe.

LEONIE Jetzt wird die Firma an die dritte Generation weitergegeben. Sei endlich einmal stolz auf unsere Firma.

KATJA Sei stolz auf eine Firma, die so viel Umsatz macht.

LEONIE Sei stolz auf eine Familie, die so viel Umsatz macht.

JANNIS Ich werde die Firma nicht übernehmen.

MICHAEL Und warum nicht? Sag uns das endlich einmal.

JANNIS Du hast mich nie geliebt.

MICHAEL Was meinst du damit?

JANNIS Ich bin dein Sohn, aber du hast mich nie geliebt. Seit ich auf der Welt bin, hast du mich noch keine einzige Sekunde lang geliebt.

KATJA Ich weiß nicht, was du damit meinst.

LEONIE Du sagst schon wieder einmal etwas, das niemand versteht. Das war auch schon in der Schule dein Problem.

KATJA Ich verstehe dich nicht. Ich verstehe dich nicht.

LEONIE Du drückst dich unklar aus. Du drückst dich davor, die Firma zu übernehmen und du drückst dich unklar aus.

JANNIS Du hast mich nie geliebt.

KATJA Ich glaube nicht, dass man so etwas so einfach behaupten kann.

LEONIE So etwas sagt man nicht zu seinem Vater.

KATJA So etwas sagt man nicht zu einem Vater, der ein wichtiger und erfolgreicher Unternehmer ist.

JANNIS Du hast mich nie geliebt und deshalb werde ich die Firma nicht übernehmen. Ich könnte in dieser Firma keinen Computer einschalten. Ich könnte dort nicht einmal ein Blatt Papier in den Drucker legen. Ich könnte dort kein Telefon abheben. Ich könnte in diesem Gebäude nichts berühren. Ich kann dieses Gebäude nicht einmal betreten.

MICHAEL Wir sind eine Unternehmerfamilie und du bist der Nachfolger.

KATJA Deshalb übernimmst du die Firma.

MICHAEL Wenn du die Firma nicht übernimmst, bekommen wir nicht den Überbrückungskredit.

KATJA Und diesen Überbrückungskredit brauchen wir unbedingt. Das weißt du.

LEONIE Oder weißt du das nicht? Hast du in den letzten Wochen geschlafen?

MICHAEL Wir brauchen diesen Überbrückungskredit, um mehr Zeit für die Sanierung zu haben.

KATJA Die Sanierung ist jetzt das Wichtigste.

LEONIE Übernimm endlich die Firma, Jannis.

KATJA Es ist deine Pflicht.

LEONIE Leider weißt du nicht selbst, was deine Pflichten sind. Leider müssen wir dir das sagen.

MICHAEL Mir ist wieder ein Name für eine Firma eingefallen. Heute morgen im Bad, als ich beim Rasieren war. Wenn mir ein guter Name für eine Firma einfällt, bekomme ich sofort Lust, diese Firma zu gründen. Wenn mir ein wirklich guter Name eingefallen ist, kann ich diesen Namen nicht mehr vergessen. Dann muss ich zu diesem Namen eine Firma gründen. Dann rufe ich bei meiner Bank an und nenne ihr den Namen. Ich teste die Reaktion. Wie kommt der Name an? Klingt er vertrauenserweckend? Ich versuche, meine Bank von dem neuen Namen zu überzeugen. Und wenn sie neugierig geworden sind, wenn sie Blut geleckt haben, dann vereinbaren wir einen Termin. Um einen Kredit herauszuschlagen, braucht man einen guten Firmennamen. Mit einem wirklich guten Namen schlage ich überall einen Kredit heraus. Im Augenblick allerdings geben mir die Banken kein Geld mehr. Nicht einmal eine Million. Nicht einmal hunderttausend. Genaugenommen nicht einmal tausend. Wie soll ich eine Firma gründen, wenn ich nicht einmal tausend zur Verfügung habe? Sie sagen, ich hätte schon so viele Firmen gegründet. Aber genau das ist mein Beruf. Sie sagen, ich sei schon zu alt. Das Gegenteil ist der Fall. Eine Firma zu gründen, hält einen jung. Das hält mich jung. Aber die Banken wollen nicht, dass ich lange lebe. Sie wollen, dass ich sterbe. Ich muss etwas tun. Ich muss etwas unternehmen. Ich werde wahnsinnig, wenn ich nichts unternehmen kann. Ich werde wahnsinnig, wenn ich keine Firma gründen kann. Ich werde wahnsinnig, wenn man mir kein Geld mehr gibt. Bloß eine Million. Bloß eine halbe.

KATJA Ohne den Überbrückungskredit können wir die Firma nicht sanieren. Wenn wir die Firma nicht sanieren können, geht die Firma in Konkurs.

LEONIE Du hast doch Betriebswirtschaftslehre studiert. Du weißt doch, was das Wort Konkurs bedeutet.

KATJA Du hast Betriebswirtschaftslehre studiert. Du weißt, in welcher Gefahr wir uns befinden.

LEONIE Aber du verschließt wieder einmal die Augen.

MICHAEL Die Banken geben uns den Kredit nur, wenn die Nachfolge geregelt ist.

KATJA Die Banken sagen, ein frischer Wind muss in das Unternehmen. Ein tatkräftiger Manager muss das Unternehmen führen. Du weißt ja, wie die Banken sind. Die verlangen immer ein Wunder.

MICHAEL Wir müssen aufpassen, dass sie uns nicht fallen lassen.

LEONIE Das ist doch nachvollziehbar, Jannis. Die Banken dürfen uns nicht fallen lassen.

MICHAEL Sie verlangen harte Sanierungsmaßnahmen. Die Kreditvergabe ist an die Bedingung geknüpft, dass wir harte Sanierungsmaßnahmen durchführen.

KATJA Die Kreditvergabe ist an die Bedingung geknüpft, dass du die Firma leitest. Das möchten sie lieber sehen, als dass ein familienfremder Manager das Unternehmen führt.

MICHAEL Ich will auch nicht, dass ein familienfremder Manager die Firma übernimmt.

LEONIE Übernimm endlich die Firma, damit wir nicht nach einem familienfremden Manager suchen müssen.

KATJA Übernimm jetzt endlich Verantwortung.

LEONIE Und hör auf, so nihilistisch zu sein.

JANNIS Ich werde die Firma nicht übernehmen. Das habe ich schon tausend Mal gesagt.

MICHAEL Und warum nicht?

JANNIS Du hast mich nie geliebt.

LEONIE Das halte ich nicht aus. Das halte ich einfach nicht aus. Die Banken werden uns fallen lassen. Sie werden uns auf den Boden fallen lassen. Und dann sind wir tot. Dann ist die Firma tot und wir sind tot.

KATJA Sie werden die Kontrolle übernehmen. Sie werden die Firma zerschlagen und verkaufen. Sie werden jeden Computer und jeden Bleistift und jedes Blatt Papier darin verkaufen, bis nichts mehr von der Firma da ist. Aber du sagst wieder einmal etwas, das niemand versteht.

JANNIS Du hast mich nie geliebt.

MICHAEL Ich habe dich absichtlich nicht geliebt.

JANNIS Was meinst du damit?MICHAEL Ich habe dich absichtlich nicht geliebt, damit du einmal die Firma übernehmen kannst.

JANNIS Das verstehe ich nicht.

LEONIE Du hast doch Betriebswirtschaftslehre studiert. Warum verstehst du das nicht?

KATJA Wir waren der Meinung, dass es besser ist, wenn wir dich nicht zu sehr lieben.

MICHAEL Wir haben dich absichtlich nicht geliebt.

KATJA Schon bei deiner Geburt haben wir beschlossen, dich nicht zu lieben.

JANNIS Stimmt das?

LEONIE Warum fragst du so viel? Du hast doch Betriebswirtschaftslehre studiert.

MICHAEL Ich habe dich nicht geliebt, damit aus dir einmal ein Unternehmer wird.

KATJA Wir haben es für dich getan.

JANNIS Das glaube ich nicht. Das stimmt doch nicht. Warum lügst du mich an?

LEONIE Reg dich nicht so auf.

MICHAEL Ich habe dich absichtlich nicht geliebt, damit in dir einmal der Wunsch entsteht, Unternehmer zu werden.

KATJA Du warst unser erstes Kind.

MICHAEL Du warst der logische Nachfolger.

KATJA Du warst ein sehr schönes und sehr kluges Kind. Schon als kleines Kind haben dich alle für etwas Besonderes gehalten.

MICHAEL Aus dir musste einmal etwas Besonderes werden. Es war unsere Aufgabe, darauf zu achten, dass aus dir etwas Besonderes wird.

KATJA Es war unsere Pflicht.

MICHAEL Deshalb haben wir dich nicht geliebt.

KATJA Unternehmer müssen darauf achten, dass ihre Kinder einmal ebenfalls Unternehmer werden.

MICHAEL Es war unsere Aufgabe, darauf zu achten, dass du einmal zur Elite gehörst.

KATJA Und jetzt gehörst du zur Elite.

LEONIE Beschwer dich jetzt nicht, dass du etwas Besonderes bist.

KATJA Beschwer dich nicht über dein Leben.

MICHAEL Beschwer dich nicht über den Luxus. Du kannst nicht gleichzeitig Luxus genießen und dich über Luxus beschweren.

LEONIE Du kannst nicht gleichzeitig am Morgen lange schlafen und dich darüber beschweren, dass du so lange schlafen kannst. Du kannst nicht gleichzeitig zwei Autos haben und dich darüber beschweren, dass du zwei Autos hast. Beschwer dich nicht, Jannis.

KATJA Ich wollte immer viele Kinder haben. Zwei sind es geworden. Nicht viel, aber immerhin. Ich wollte immer viel Lärm um mich. Schreiende Kinder und laute Firmen lenken mich von meinem Todestrieb ab. Ich meine, meiner Traurigkeit. Wenn es still ist, werde ich traurig. Das liegt bei mir in der Familie. Auch meine Mutter war oft traurig. Um damit fertig zu werden, hat sie getrunken. Ich brauche laute Menschen. Und Tiere. Und Firmen. Ich hasse die Stille. Sobald es still ist, fange ich an, mich mit meinem Todestrieb zu beschäftigen. Ich meine, meiner verdammten Traurigkeit. Das ist eine lästige Krankheit. Dabei gibt es überhaupt keinen Grund, traurig zu sein. Wir haben zwei Kinder, die wir achten und respektieren, wir haben eine große Firma, die wir achten und respektieren, wir haben ein Haus, das wir achten und respektieren. Nur wenn es ganz still ist, wenn ich vergessen habe, den Fernseher einzuschalten, und keiner von den Hunden bellt, dann bekomme ich eine irrsinnige Lust, zu sterben. Dann denke ich ganz gierig ans Sterben. Wie andere Menschen ans Essen denken, wenn sie hungrig sind, denke ich, wenn ich allein bin, augenblicklich ans Sterben. Ich bräuchte Enkelkinder. Die würden mich ablenken. Aber meine Kinder sind nicht dazu fähig, für Enkelkinder zu sorgen und die Familie zu vergrößern. Die können gar nichts vergrößern. Die können bloß alles verkleinern und verringern. Bei ihnen wird aus allem immer weniger statt mehr.

MICHAEL Übernimm endlich die Firma und denk nicht die ganze Zeit an dein Rennboot.

KATJA Denk nicht die ganze Zeit an diesen Motorbootrennsport. Dieser Motorbootrennsport hilft uns nicht dabei, den Überbrückungskredit zu bekommen.

LEONIE Ich verstehe nicht, wie du in aller Ruhe Motorbootrennen fahren kannst, während wir zur selben Zeit nicht den Überbrückungskredit bekommen.

KATJA Wer Motorbootrennen fahren kann, kann auch eine Firma leiten.

LEONIE Bei deinem Rennboot kennst du dich aus, aber in Betriebswirtschaftslehre kennst du dich nicht aus.

MICHAEL Hör endlich auf, an dein Rennboot zu denken.

LEONIE Denk an die Firma.

KATJA Denk an die Familie.

JANNIS Du hast keine Ahnung von Rennbooten. Sonst würdest du nicht so darüber sprechen.

LEONIE Das stimmt. Ich habe keine Ahnung davon.

JANNIS Du weißt nicht einmal, in welcher Klasse ich fahre.

LEONIE Stimmt. Das weiß ich nicht.

JANNIS Du weißt nicht einmal, wieviel PS das Boot hat.

MICHAEL Ich weiß aber, dass ich es gekauft habe.

JANNIS Du hast es mir zum Geburtstag geschenkt.

MICHAEL Ich bezahle auch die Reparaturen. Und es muss einmal in der Woche repariert werden. Es muss ständig repariert werden.

JANNIS Das ist so im Motorbootrennsport.

MICHAEL Die Reparatur kostet jedes Mal ein Vermögen. Und dieses Vermögen haben wir nur so lange, so lange die Firma nicht in Konkurs geht.

LEONIE Du denkst nur an dein Rennboot und du denkst nicht an den Konkurs.

JANNIS Es ist unglaublich schön, Motorbootrennen zu fahren. Und wenn du einmal zu einem Rennen kommen würdest, wärst du auch davon begeistert.

MICHAEL Ich habe keine Zeit für Motorbootrennen. Ich leite die Firma. Ich leite die Firma, die dein Rennboot bezahlt.

KATJA Es kann ja sein, dass du dich gut dabei fühlst, Motorbootrennen zu fahren. Aber du würdest dich auch gut dabei fühlen, die Firma zu leiten.

LEONIE Wahrscheinlich brauchst du dieses Rennboot für deine Entwicklung. Es wäre aber noch besser für deine Entwicklung, die Firma zu übernehmen.

JANNIS Warum übernimmst nicht du die Firma? Warum muss unbedingt ich sie übernehmen?

LEONIE Weil ich nicht Betriebswirtschaftslehre studiert habe.

JANNIS Das kannst du nachholen.

LEONIE Weil ich nicht als Unternehmensnachfolgerin erzogen worden bin. Weil ich nie so angesprochen worden bin. Weil ich mich nie damit identifiziert habe.

JANNIS Dann identifiziere dich in Zukunft damit.

LEONIE Ich weiß nicht, wie du auf diese Idee kommst. Ich werde einmal erben, Jannis. Das war immer so vorgesehen. Du wirst die Leitung der Firma erben und ich werde einen großen Teil des Vermögens erben.

JANNIS Und wenn ich damit nicht einverstanden bin?

LEONIE Dafür ist es zu spät. Stell dich nicht immer in den Mittelpunkt. Du glaubst, du stehst im Mittelpunkt, weil du nicht geliebt worden bist. Aber ich bin auch nicht geliebt worden. Und ich beschwere mich deshalb nicht. Nicht geliebt zu werden, hat mich stark gemacht, und ich verstehe nicht, dass du das nicht bist. Und ich würde gern wissen, warum du das nicht bist.

JANNIS Übernimm die Firma.

LEONIE Warum bist du nicht stark?

JANNIS Warum übernimmst du nicht die Firma?

LEONIE Warum bist du nicht mein großer, starker Bruder?

JANNIS Du könntest genauso gut die Firma leiten.

LEONIE Du warst auch in der Schule ein Versager. Du warst auch in der Schule ein Nihilist.

JANNIS Warum hast du nicht Betriebswirtschaftslehre studiert?

LEONIE Ich musste dir bei den Hausaufgaben helfen. Ich musste dir immer helfen. Ich musste dich vor den anderen beschützen.

JANNIS Niemand hat dich davon abgehalten, Betriebswirtschaftslehre zu studieren.

LEONIE Niemand hält dich davon ab, die Firma zu übernehmen. Niemand hält dich davon ab, die Familie reich zu machen.

JANNIS Niemand hält dich davon ab, auf dein Erbe zu verzichten. Niemand hält dich davon ab, arm zu sein.

LEONIE Du hast dein ganzes Leben lang gewusst, dass du einmal die Firma übernehmen musst.

JANNIS Ich habe mich anders entschieden.

LEONIE Du kannst dich nicht so einfach anders entscheiden.

JANNIS Ich habe mein Leben geändert.

LEONIE Du kannst dein Leben nicht ändern.

LEONIE In jeder Zeitschrift, in der über die schönen Seiten des Lebens berichtet wird, kann ich über mich lesen, dass ich eine reiche Erbin bin. Ich gehöre zu den schönen Seiten des Lebens. Wo die schönen Seiten des Lebens umgeblättert werden, da findet man mich. Das heißt, da hat man mich bis vor kurzem gefunden. Seitdem überall erzählt wird, dass nichts mehr zum Erben da ist, komme ich auf diesen Seiten nicht mehr vor. Die schönen Seiten des Lebens werden jetzt ohne mich umgeblättert. Und das kränkt mich. Das kränkt mich. Ich bin mein ganzes Leben lang eine Erbin gewesen. Mein ganzes Leben lang habe ich mich mit dieser Rolle identifiziert. Und jetzt hat mir jemand diese Rolle weggenommen. Unter den Füßen weggezogen. Ohne nachzudenken, was dann aus mir werden soll. Dauernd wird von irgendwelchen Kräften gesprochen. Von geheimen Kräften und Dynamiken und Mechanismen. Und von den Marktgesetzen. Aber mich interessiert gar nicht, wer schuld daran ist. Ich bin mein ganzes bisheriges Leben eine Erbin gewesen und nun bin ich das mit einem Mal nicht mehr. Das kränkt mich. Das kränkt mich. Ich identifiziere mich damit, eine Erbin zu sein. Ich will mich nicht plötzlich mit etwas anderem identifizieren. Womit? Ich habe ein paar Jahre lang studiert, aber das war nichts für mich, das hat mich bloß drogensüchtig gemacht. Oder soll ich mich jetzt in einem Supermarkt an die Kassa setzen? Oder putzen gehen? Ich kann nicht bei anderen Menschen die Toilette putzen mit dem Bewusstsein, eine Erbin zu sein. Gut, ich bin höchstwahrscheinlich keine reiche Erbin mehr. Gut. Gut. Gut. Aber ich habe noch immer das Bewusstsein, es zu sein. Und das gebe ich nicht auf. Das bekommt niemand mehr aus meinem Kopf. Ich werde mir auch zum nächsten Geburtstag einen Brillanten wünschen, auch wenn mir niemand einen schenken können wird. Ich werde wieder einen Urlaub auf einer exotischen Insel planen, auch wenn das niemand bezahlen können wird. Das macht mir nichts aus.

JANNIS Ich werde die Firma nicht übernehmen. Sonst würde ich irgendwann auch einen Selbstmordversuch unternehmen.

KATJA Was meinst du damit?

JANNIS Ich würde mich irgendwo auf Eisenbahnschienen legen.

LEONIE Das würdest du nicht. Ich kenne dich.

KATJA Ich kann mir das auch nicht vorstellen.

JANNIS Ich würde so wie du einen Selbstmordversuch unternehmen. Du hast schon wieder einen Selbstmordversuch unternommen.

MICHAEL Das stimmt nicht.

JANNIS Vor einer Woche. Du bist mit einem schmutzigen Anzug nach Hause gekommen. An deinem Sakko war Erde.

MICHAEL Die Erde kann irgendwie an das Sakko gekommen sein.

JANNIS Du hast dich schon einmal auf die Schienen gelegt.

MICHAEL Stimmt nicht.

JANNIS Im Frühjahr vor zwei Jahren. Auch damals hast du versucht, es zu verheimlichen. Du bist spät in der Nacht ins Haus gekommen und hast gedacht, dass dich niemand sieht. Aber ich habe dich gesehen.

MICHAEL Stimmt nicht.

KATJA Doch. Es stimmt.

MICHAEL Das ist doch schon sehr lange her.

KATJA Dein Anzug war voller Erde. Du hast deinen Anzug ruiniert.

MICHAEL Ich habe genügend Anzüge.

KATJA Es war der, der dir am besten gepasst hat.

MICHAEL Ich habe ihn nicht ruiniert. Weißt du nicht mehr? Man konnte ihn reinigen und er war dann wieder wie neu.

JANNIS Vor einer Woche hast du dich wieder irgendwo auf die Schienen gelegt.

MICHAEL Ich bin wieder aufgestanden. Ich bin rechtzeitig wieder aufgestanden, wie du siehst.

LEONIE Warum hast du dich dort hingelegt?

KATJA Hat dich jemand gesehen?

LEONIE Wo war es?

KATJA War es hier in der Nähe?

LEONIE War es am Nachmittag? Oder war es in der Nacht?

KATJA Wenn dich jemand auf den Gleisen liegen gesehen hat, das wäre nicht gut.

LEONIE Wenn jemand es gesehen hat und es herumerzählt.

KATJA Wenn das die Banken erfahren. Du weißt, wie die Banken sind.

LEONIE Du hast den Überbrückungskredit gefährdet.

MICHAEL Niemand hat mich gesehen. Niemand wird es erfahren.

JANNIS Ich will mich nicht auch einmal irgendwo in einem abgelegenen Waldstück auf Eisenbahnschienen legen müssen.

KATJA Das hat niemand von dir verlangt.

LEONIE Stell dich nicht wieder in den Mittelpunkt.

MICHAEL Das ist einmal passiert. Das wird nicht mehr passieren.

JANNIS Das wird mir auch passieren.

KATJA Dann pass eben auf, dass es dir nicht passiert. Dann konzentrier dich eben.

LEONIE Und kümmere dich um die Firma.

JANNIS Du hast dich auf die Schienen gelegt, weil die Firma so überschuldet ist.

MICHAEL Ich bin rechtzeitig wieder aufgestanden.

JANNIS Auf der Firma lastet ein riesiger Berg an Schulden.

MICHAEL Ich bin wieder aufgestanden.

KATJA Das Wichtigste ist, dass es niemand gesehen hat.

LEONIE Und niemand irgend etwas erzählen kann.

JANNIS Es wird mir auch passieren. Das weiß ich. Wenn ich die Schulden nicht abbauen kann, wird mir das auch passieren.

MICHAEL Dann bau die Schulden ab.

KATJA Konzentrier dich und bau die Schulden ab.

LEONIE Du bist nicht schuld an den Schulden, aber bau die Schulden ab. Übernimm die Firma und bau die Schulden ab.

JANNIS Als ich ein Kind war, hat mein Vater immer von mir verlangt, dass ich die Fernsehnachrichten ansehe. Dass ich jeden Abend neben ihm im Wohnzimmer sitze und zusammen mit ihm die Nachrichten sehe. Damit ich etwas lerne. Damit ich etwas von der Welt verstehe. Während der Nachrichten durfte niemand etwas sagen. Und immer sah mein Vater zu mir, um zu kontrollieren, ob ich wohl aufpasste, worüber im Fernsehen gesprochen wurde. Ich habe nicht wie andere Kinder mit Legosteinen gespielt, sondern mit Nachrichten. Wenn ich unter den Esstisch gekrochen bin oder auf dem großen Teppich im Wohnzimmer gesessen bin, dann habe ich immer mit Nachrichten gespielt. Ich habe tausend Spielsachen gehabt, aber ich habe mich nur mit Nachrichten beschäftigt. Ich habe mit dem Nahostkonflikt gespielt. Oder mit dem Krieg in Nordirland. Damit habe ich Straßen und Häuser gebaut. Damit habe ich Indianer gespielt. Ich wollte, dass meine Eltern mich beachten. Ich wollte ihnen zeigen, was für ein außergewöhnliches Kind ich war. Sie haben mir beim Spielen zugesehen. Sie waren stolz auf mich. Wenn wir Besuch hatten, dann habe ich allen gesagt, dass ich mich für den Nahostkonflikt interessiere. Das hat die Freunde meiner Eltern beeindruckt. Ich habe mit den Weltnachrichten gespielt und alle haben über mich gesagt, was für ein aufgewecktes und intelligentes Kind ich bin. Ich war ein Genie. Ich konnte bei anderen den Eindruck erwecken, ein Genie zu sein. Ich wurde gelobt. Ich stand im Mittelpunkt. Die Erwachsenen haben sich über mich unterhalten. Ich habe mir die Nachrichten angesehen, damit mich mein Vater liebt. Aber er hat mich nicht geliebt. Sondern ganz im Gegenteil hat er mir die Schuld dafür gegeben, wenn irgend etwas Furchtbares passiert war, wenn es im Fernsehen schlechte Nachrichten gab. Wenn von einem Flugzeugabsturz berichtet wurde oder einem entgleisten Zug in Indien oder einem Vulkanausbruch auf den Philippinen. Für diese Katastrophen gab er mir die Schuld. Das habe ich gespürt. Er sah mich dann jedes Mal so an, als wäre ich dafür verantwortlich. Als trüge ich allein dafür die Schuld.