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retten – zerstören

„retten – zerstören“ in der Theater Halle 7, München, 2006 (Foto: Hilda Lobinger)

© S. Fischer Verlag, Aufführungsrechte S. Fischer Verlag Theater & Medien
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Textausschnitt

1

HENDRIK Da ist alles in Ordnung, sagt Jana, wenn ich sie am Abend frage, wie es im Büro gewesen ist. Sie will nicht über ihre Arbeit im Büro reden. Sie sagt, sei froh, dass ich dir nichts davon erzähle. Jana arbeitet in einem Zeitschriftenverlag. Vierzehn verschiedene Magazine erscheinen in dem Verlag, Wochenmagazine und Monatsmagazine, ein Fernsehmagazin zum Beispiel, ein Gesundheitsmagazin, eine Zeitschrift für Antiquitäten. Jana arbeitet in der Produktion, sie leitet eine Abteilung. Seit sie in dem Verlag begonnen hat, ist sie kontinuierlich Stufe um Stufe hinaufgeklettert. Jana und ich sind seit sechs Jahren zusammen. Nach sechs Jahren weiß man, ob derjenige, mit dem man zusammen ist, der Richtige ist. Nach so einer langen Zeit kann keiner von uns mehr behaupten, dass alles nur ein Irrtum gewesen ist. Jana wird irgendwann eine noch größere Abteilung übertragen bekommen, sie ist im Verlag beliebt. Es entwickelt sich so, wie sie es sich gewünscht hat. Wir sind auf dem richtigen Weg. Aber wenn ich das zu ihr sage, dann lacht sie. Wenn ich zu ihr sage, wir wissen beide genau, was wir wollen, und nichts hält uns auf, lacht sie darüber. So als ob sie denken würde, ich meine das nicht im Ernst.

2

Eine Hotelbar.

RICHTER Hast du gesehen, was für einen Anzug der getragen hat?

RICHIE Habe ich gesehen.

RICHTER War das ein Maßanzug?

RICHIE Ja. Glaube ich.

RICHTER Hast du gesehen, wie der seinen Kaffee getrunken hat?

RICHIE Habe ich gesehen.

RICHTER Damit er bloß nichts auf seinen Anzug schüttet.

RICHIE Ja.

RICHTER Die ganze Zeit ist der aufgestanden, um irgendwas zu holen, irgendwas Unwichtiges. Geht plötzlich hinaus und bleibt zwanzig Minuten draußen. Warum ist der zwanzig Minuten draußen geblieben? Kommt zurück und setzt sich, als wäre nichts gewesen. Ich hätte was zu ihm sagen sollen.

RICHIE Gut, dass du das nicht getan hast.

RICHTER Ich hätte ihn fragen sollen, warum er zwanzig Minuten lang verschwunden ist.

RICHIE Ich bin froh, dass du ihn das nicht gefragt hast.

RICHTER Die haben kein Wasser auf den Tisch gestellt. Ist dir das aufgefallen? Kaffee gab es literweise, aber kein Wasser.

RICHIE Absichtlich nicht.

RICHTER Die Gläser standen da. Sogar eine Karaffe. Aber kein Wasser drin.

RICHIE Ja. Absichtlich nicht.
RICHTER Das Zimmer war viel zu klein für so eine Besprechung. Haben die kein größeres Zimmer?

RICHIE Natürlich haben die ein größeres Zimmer.

RICHTER Die haben kein einziges Mal das Fenster geöffnet. Sie hätten wenigstens einmal das Fenster öffnen können, für fünf Minuten.

RICHIE Die haben gewartet, ob wir was sagen.

RICHTER Ob wir uns beschweren?

RICHIE Ob wir uns beschweren.

RICHTER Die Besprechung hat vier Stunden gedauert. Und was ist dabei herausgekommen? Ich würde gern wissen, warum die das machen.

RICHIE Taktik.

RICHTER Was soll das für eine Taktik sein?

RICHIE Das ist ihre Taktik.

RICHTER Ich verstehe nicht, was ihnen das bringt.

RICHIE Gar nichts.

RICHTER Was haben die für einen Vorteil davon?

RICHIE Keinen. Das interessiert die auch nicht.

RICHTER Ich würde gern wissen, was die über uns denken.

RICHIE Die denken, dass wir ihnen unterlegen sind.

RICHTER Glaubst du?

RICHIE Glaube ich.

RICHTER Warum denken die das?

RICHIE Die denken von allen, dass sie ihnen unterlegen sind.

RICHTER Sie haben uns spüren lassen, dass wir in der Luft hängen.

RICHIE Wir hängen nicht in der Luft.

RICHTER So lange nichts unterschrieben ist.

RICHIE Der Vertrag ist so gut wie unterschrieben.
RICHTER Vielleicht ist er so gut wie unterschrieben, aber noch ist keine Unterschrift darauf.

RICHIE Beim nächsten Mal unterschreiben sie.

RICHTER Wir hätten schon vor Wochen unterschreiben können.

RICHIE Die wollen uns bloß auf die Probe stellen. Sehen, ob wir durchhalten.

RICHTER Das ist ihre Taktik?

RICHIE Das ist ihre Taktik.

3

NELLY Mit mir stimmt was nicht, sagt Miriam. Mit dir stimmt was nicht, sagt sie, wenn sie sich über mich ärgert. Miriam und ich gehen in dieselbe Klasse, wir sind Freundinnen, obwohl sie sagt, dass wir das nicht sind. Miriam könnte mit Marko zusammen sein, schon seit zwei Monaten, aber sie will nicht, noch nicht, sie will noch warten, vielleicht bekommt sie was Besseres. Wir treffen uns jeden Freitag und Samstag bei ihr, jedes Mal kauft jemand anderes ein, Rebekka oder Kathi oder Julia oder ich, Miriams Eltern sind am Wochenende nie da, letzte Woche habe ich die Getränke eingekauft, Miriam braucht nie einzukaufen, da es ja ihre Wohnung ist. Um zehn gehen wir raus, treffen die anderen, Ramin und Benny und Florian, dann überlegen wir, was wir machen, oft macht Ramin einen Vorschlag, oder Miriam, wir stimmen ab, meistens gehen wir ins Mona. Miriam und Marko haben das erste Mal vor zwei Monaten miteinander geschlafen, Marko ist zwei Jahre älter, Miriam war dabei vollkommen zu, sie sagt, sie weiß nicht einmal mehr, ob sie was verwendet haben. Obwohl Marko viel älter ist als sie, lässt sie ihn warten, sie weiß, dass sie gut aussieht, sie weiß, dass Marko warten wird, sie hat zu ihm gesagt, wenn du mich wirklich liebst, dann wartest du auch. Marko will unbedingt mit ihr zusammen sein, deshalb wird er warten. Miriam mag mich auf ihre Art, auf ihre eigene Art, das ist genauso viel wert, sagt sie. Ich kann mit dir die gleichen Dinge machen wie mit Julia, trotzdem ist es zwischen uns was anderes, sagt sie. Miriam sagt, mit mir stimmt was nicht, ich sei noch nie mit jemandem richtig zusammen gewesen. Sie sagt zu mir, du wirst nie jemanden finden, mit dem du richtig zusammen sein kannst, du wirst nie einen Typen finden, das sagt sie zu mir, wenn sie sich über mich ärgert. Aber dann ruft sie mich wieder an, fünf Mal an einem Nachmittag, fragt, ob wir uns treffen, dann sind wir wieder Freundinnen. Sie sagt, uns wird nie jemand trennen, wir gehören zusammen wie Schwestern. Marko hat sie einmal gefragt, das hat sie mir erzählt, warum bist du mit der befreundet? Er könne sich nicht vorstellen, dass sie wirklich mit mir befreundet sei. Vor einer Woche habe ich mit Benny geschlafen, bei ihm zuhause, davor waren wir im Mona, es war nach zwei, draußen hat mich Benny gefragt, ob ich mitkommen will zu ihm, ich wollte eigentlich nicht, trotzdem habe ich ja gesagt. Wir sind zu ihm, wir haben noch Bacardi und Wodka getrunken, seine Eltern waren nicht da, wir haben in ihrem Bett miteinander geschlafen, dann bin ich mit dem Nachtbus nach Hause. Benny hat am nächsten Tag zu Marko gesagt, Miriam hat es gehört, die habe ich abgeschossen, ich habe sie abgeschossen, aber ich bin nicht mit ihr zusammen, mit der würde ich nie zusammen sein.

4

Janas und Hendriks Wohnung.

JANA Ich bin heute zu Christof ins Büro, am Nachmittag, als er allein war, ich habe zu ihm gesagt, dass ich kündige.

HENDRIK Ist das wahr?

JANA Ich habe zu ihm gesagt, dass ich ab sofort nicht mehr komme, ich höre auf. Ich habe immer gedacht, das ist der einzige Satz, den ich nie sagen werde, auf einmal war es ganz leicht, das auszusprechen.

HENDRIK Darüber macht man keinen Spaß.

JANA Ich habe dir doch gesagt, dass ich das einmal machen werde.

HENDRIK Das war nicht ernst gemeint.

JANA Einmal, bald einmal, sehr bald einmal.

HENDRIK Das denkt jeder einmal.

JANA Du hast es mir nicht geglaubt.

HENDRIK Stimmt. Ich glaube es dir nicht.

JANA Ich habe zu Christof gesagt, dass ich krank bin.

HENDRIK Du bist nicht krank.

JANA Vielleicht werde ich sterben. Irgendwas musste ich zu Christof sagen. Er hat es mir geglaubt.

HENDRIK Christof würde versuchen dich zu überreden.

JANA Das hat er nicht versucht.

HENDRIK Er würde nie zulassen, dass du gehst.

JANA Ich habe gekündigt, bevor sie mich hinauswerfen. Sie werfen jeden hinaus, der keine Kraft mehr hat. Du hast vergessen, was mit Lars passiert ist.

HENDRIK Das mit Lars war etwas anderes.

JANA Sie haben ihn hinausgeworfen.

HENDRIK Du weißt nicht, aus welchem Grund. Woher willst du den wirklichen Grund dafür kennen?

JANA Christof hat mir gesagt, warum.

HENDRIK Das mit Lars war etwas anderes.

JANA Wir haben nie wieder was von ihm gehört.

HENDRIK Er wollte sowieso von der Firma weg.

JANA Wir wollten in Kontakt bleiben. Er wollte uns im Büro besuchen. Das hat er versprochen. Er wollte sich melden.

HENDRIK Du weißt, wie das ist.

JANA Wir wollten telefonieren, wir wollten uns regelmäßig sehen.

HENDRIK Er hat sich woanders beworben. Du weißt, wie das ist.

JANA Wir haben darauf gewartet, dass er sich meldet.

HENDRIK Wenn man erst einmal bei einer anderen Firma ist.

JANA Sie hätten mich im nächsten Monat hinausgeworfen.

HENDRIK Wer?

JANA Christof.

HENDRIK Christof kann niemanden hinauswerfen.

JANA Christof hätte mir die Entscheidung der Leitung mitgeteilt. Das gehört zu seinen Aufgaben.

HENDRIK Du rufst ihn morgen an. Du sagst, du kannst es dir selbst nicht erklären.

JANA Ich rufe ihn nicht an.

HENDRIK Dann gehst du hin. Du erklärst ihm alles, erklärst ihm, dass du es nicht ernst gemeint hast.

JANA Ich habe schon meine Sachen mitgenommen.

HENDRIK Du machst es kaputt. Du machst alles kaputt, Warum machst du das? Wir haben uns so viel vorgenommen. Jetzt machst du alles kaputt. Hast du dich geärgert? Worüber? Hast du Schwierigkeiten? Erzählst du es mir? Warum erzählst du es mir nicht? Du kannst es wieder rückgängig machen. Du hast das nicht im Ernst gesagt. Mach es wieder rückgängig, Jana.

JANA Ich habe Christof versprochen, dass wir in Kontakt bleiben.

HENDRIK Natürlich musst du in Kontakt bleiben mit ihm.

JANA Ich habe ihm versprochen, dass ich ihn besuchen werde. Aber wenn man erst einmal weg ist.

HENDRIK Du bist nicht weg.

JANA Ich glaube nicht, dass ich ihn besuchen werde.

HENDRIK Du bist nicht von dort weg.

JANA Ich hätte es dir gar nicht erzählen sollen.

5

Eine U-Bahn-Station. Nachts.

RICHIE Siehst du den?

RICHTER Wen?

RICHIE Weg. Wieder weg.

RICHTER Wo?

RICHIE Jetzt. Hast du den nicht gesehen?

RICHTER Wen denn?

RICHIE Wieder. Hast du ihn jetzt gesehen? Er klettert runter auf die Gleise.
RICHTER Lass ihn.

RICHIE Was macht der da? Die U-Bahn kommt gleich.

RICHTER Der kommt rechtzeitig wieder rauf.

RICHIE Der bringt sich um.

RICHTER Das weißt du.

RICHIE Der bringt sich um.

RICHTER Woher weißt du das?

RICHIE Wir müssen ihn raufholen.

RICHTER Müssen wir nicht.

RICHIE Er legt sich nieder. Auf die Gleise.

RICHTER Lass ihn.

RICHIE Sieht das niemand? Warum sieht das niemand? Es muss doch hier Videokameras geben. Kommen Sie rauf. Kommen Sie.

RICHTER Der reagiert nicht.

RICHIE Wir helfen Ihnen rauf. Kommen Sie wieder rauf.

RICHTER Du siehst doch, dass der nicht reagiert.

RICHIE Ich geh runter.

RICHTER Die U-Bahn kommt gleich.

Richie zieht den Mann an seiner Jacke von den Gleisen, gemeinsam ziehen sie ihn dann auf den Bahnsteig.

RICHTER Der rührt sich nicht.

RICHIE Er hat einen Schock.

RICHTER Der hört uns nicht.

RICHIE Er hat einen Schock.

RICHTER Der ist stockbetrunken. Siehst du das? Siehst du das nicht? Du hast einem betrunkenen Penner das Leben gerettet.

RICHIE Der wollte sich umbringen.

RICHTER Der hat uns zum Narren gehalten. Wir haben für einen betrunkenen Penner unser Leben riskiert.

RICHIE Der wollte sich umbringen.

RICHTER Wollte er nicht. Der ist bloß betrunken.

RICHIE Ich habe gedacht, dass der sich umbringen will.

RICHTER Das hast du gedacht.

RICHIE Das habe ich gedacht.

6

HENDRIK Sophia arbeitet in derselben Firma wie ich, allerdings in einer anderen Abteilung, auch in einem anderen Gebäude, wir laufen uns nie zufällig über den Weg. Ab und zu telefonieren wir, ich rufe sie an und frage sie, ob sie Lust hat, dass wir uns am Abend treffen. Sophia glaubt, ich würde sie nur dann anrufen, wenn mir irgendwas über den Kopf gewachsen ist, aber das stimmt nicht. Wir treffen uns immer in demselben Café, genau auf halbem Weg zwischen ihrem und meinem Büro, danach gehen wir essen. Ich habe ihr erzählt, dass Jana gekündigt hat. Ich habe ihr erzählt, dass Jana jetzt alles in Frage stellt, dass sie glaubt, Fehler gemacht zu haben, dabei macht sie doch den Fehler jetzt. Sophia hört zu, wenn ich etwas von Jana erzähle, aber sie stellt nie eine Frage, sie ist froh, wenn ich wieder aufhöre damit. Sie hat mich noch nie gefragt, ob ich mich einmal von Jana trennen werde, ob ich die Absicht hätte. Nach dem Essen gehen wir zu ihr, sie lebt allein, ihre Wohnung ist nur provisorisch eingerichtet. Sie sagt, sie will ihre Wohnung nicht einrichten, wenn sie jemanden kennenlernt, dann will sie mit ihm zusammenziehen in eine größere Wohnung, wozu sollte sie viel Geld und Zeit darauf verwenden, ein Provisorium einzurichten. Wir gehen in ihr Provisorium und schlafen miteinander.

7

MICHAEL Ich bin mit der U-Bahn zurück, den ganzen Vormittag und Nachmittag durch die Stadt gerannt, ich war so irrsinnig müde, deshalb bin ich mit der U-Bahn zurück. Es gab keinen freien Platz, ich bin gestanden, ich habe auf die Station gewartet, da habe ich ihn gesehen.

ELENA Hast du mit ihm geredet?

MICHAEL Der Waggon war voll, ich war am anderen Ende, ich habe ihn nicht sofort erkannt, ich habe ihn nur von der Seite gesehen, er wartete darauf, aussteigen zu können.

ELENA Was hat er gesagt?

MICHAEL Jeder wollte so schnell wie möglich raus, nur raus, es war heiß in dem Waggon, es war fürchterlich da drin.

ELENA Wo wohnt er jetzt? Hast du ihn das gefragt?

MICHAEL Der Waggon war überfüllt, alle wollten raus, alle haben zur Tür gedrängt. Da war eine Frau mit einer Gitarre in dem Waggon.

ELENA Hast du nicht mit ihm geredet?

MICHAEL Es war so laut in dem Waggon. Eine Frau hat Gitarre gespielt und gesungen. Der Waggon war voll. Ich konnte nicht näher zu ihm hin.

ELENA Bist du dir sicher, dass er es war?

MICHAEL Ich habe es versucht, aber ich konnte nicht näher hin.

ELENA Er war es nicht, Michael. Das war er nicht.

MICHAEL Als er raus ist, bin ich ihm nach, aber ich war nicht so schnell wie er. Ich habe gesehen, wie er zur Rolltreppe ist, ich habe seine grüne Jacke gesehen.

ELENA Was für eine grüne Jacke?

MICHAEL Er hatte eine grüne Jacke an mit einer Kapuze.

ELENA Das war er nicht.

MICHAEL Eine dicke Winterjacke mit einer Kapuze, und er hatte einen Rucksack.

ELENA Er wollte immer nur Anzüge und Mäntel tragen, keine Jacken, teure Anzüge und Mäntel.

MICHAEL Als ich oben war, war er schon weg. Ich habe ihn gerufen, aber er war nicht mehr da, ich bin durch die ganze Station gerannt, aber ich habe ihn nicht mehr gesehen.

ELENA Warum hatte er einen Rucksack? Wozu einen Rucksack?

MICHAEL Es geht ihm gut.

ELENA Woher weißt du das?

MICHAEL Er war in Eile. Wahrscheinlich auf dem Weg zu einem Termin, zu einer Besprechung, auf dem Weg zu etwas Wichtigem.

ELENA Vor zwei Monaten hast du ihn auch gesehen. Du warst dir sicher, dass er es war.

MICHAEL Er war es.

ELENA Auch in der U-Bahn.

MICHAEL Es geht ihm gut.

ELENA Er ist schon lange weg, Michael. Schon eine lange Zeit.

MICHAEL Es geht ihm gut. Das habe ich gesehen.

ELENA Er ist weg, weil er woanders neu anfangen kann.

MICHAEL Das kann er auch hier.

ELENA Er ist weg, weil er woanders mehr Möglichkeiten hat.

MICHAEL Die Möglichkeiten hat er auch hier.

ELENA Hier hat er kein Glück.

MICHAEL Er lebt immer noch hier und es geht ihm gut.

ELENA An seiner Stelle wäre ich auch weggegangen. Wir dürfen ihn nicht verurteilen dafür, dass er weggegangen ist.

MICHAEL Wir müssen uns keine Sorgen machen.

ELENA Woher weißt du das?

MICHAEL Es geht ihm gut. Das habe ich gesehen.

ELENA Dann, wenn er es für richtig hält, wird er sich bei uns melden. Zu dem Zeitpunkt, den er für richtig hält. So lange müssen wir warten.

8

Eine hohe Autobahnbrücke am nördlichen Stadtrand, die sich über eine andere vielspurige Autobahn spannt. Jana ist aus dem Auto ausgestiegen. Sie klettert über das Geländer, stellt sich auf die äußerste Plattform.

MARIAN Warte.

JANA Hau ab.

MARIAN Warte noch.

JANA Geht dich nichts an.

MARIAN Stimmt. Geht mich nichts an.

JANA Also?

MARIAN Also.

JANA Hau ab.

MARIAN Ich hab schon jemanden hier runterspringen sehen. Vor ein paar Tagen. Von derselben Stelle.

JANA Und?

MARIAN Ist vor meinen Augen runtergesprungen.

JANA Und?

MARIAN Ein alter Mann, sechzig oder siebzig. In einem Anzug. Von derselben Stelle.

JANA Geht mich nichts an.

MARIAN Wo hast du deine Tasche?

JANA Was für eine Tasche?

MARIAN Der Alte hatte eine Tasche bei sich. Eine schwarze Umhängetasche. Er sprang mit der Tasche runter.

JANA Ich habe keine Tasche.

MARIAN Hast du deinen Computer nicht dabei? Wo hast du deinen Computer? Brauchst du in deinem Job keinen Computer?

JANA Hau jetzt ab.

MARIAN Der Alte war unheilbar krank.

JANA Geht mich nichts an.

MARIAN Er war unheilbar krank. Warum sollte sonst ein alter Mann da runter springen, außer wenn er unheilbar krank ist.

JANA Geht mich nichts an.

MARIAN Bist du unheilbar krank?

JANA Warum haust du nicht ab?

MARIAN Als er runtergesprungen ist, hat er geschrien.

JANA Ich schreie nicht.

MARIAN An der Stelle sind schon viele runtergesprungen. Vor dem Alten ein Mann in einem Trainingsanzug, eine Frau mit ihrem Kind.

JANA Die hast du alle gesehen.

MARIAN Sind vor mir runtergesprungen.

JANA Nicht schwierig über das Geländer zu klettern.

MARIAN Nein.

JANA Sogar ein Kind könnte da drüberklettern.

MARIAN Ja.

JANA Das wird einem leicht gemacht. Warum machen die einem das so leicht?

MARIAN Keine Ahnung.

JANA Man ist hundertprozentig tot.

MARIAN Man ist hundertprozentig tot. Ob man vor ein Auto fällt oder auf ein Auto.

JANA Warum stehst du da? Was willst du von mir?

MARIAN Gib mir deine Telefonnummer.

9

HENDRIK Seit zwei Wochen kursiert bei uns das Gerücht, dass vielleicht jeder fünfte gehen muss, in der Mittagspause wird nur darüber gesprochen. Allen Mobilfunkbetreibern ginge es jetzt schlecht wegen dem Preiskampf, zwanzig Prozent der Mitarbeiter, das könnte vielleicht passieren. Wir arbeiten in Teams, ich arbeite mit Barbara, Andreas, Carla und Jonathan. Mit Carla sitze ich in einem Raum, gleich daneben gibt es einen großen Raum für die Meetings, die Räume liegen im dritten Stock. Mit Carla und Barbara verstehe ich mich gut, mit Jonathan weniger, aber ein Team wird nur für eine begrenzte Zeit gebildet, im nächsten Monat kann das Team schon wieder anders aussehen, vielleicht ist Jonathan dann nicht mehr dabei. Wir überlegen uns neue Modelle der Kundenanbindung, wir entwickeln Konzepte, wir überlegen uns die Geschenke für die neuen Kunden, vor allem berechnen wir, was es kostet. Bis vor kurzem hat jeder seine Position nur als Sprungbrett betrachtet, jeder war dauernd auf dem Sprung, schon in der Luft, schon bereit seinen Fuß auf die nächst höhere Position zu setzen, jetzt würden sich alle am liebsten Bleigewichte an die Füße binden. Jana habe ich nichts von dem Gerücht erzählt. Aber wenn ich es ihr erzählen würde, dann würde ich ihr auch sagen, dass ich nicht unter denen wäre, die gehen müssten, ich würde nicht zu den zwanzig Prozent gehören, das weiß ich. Ich werde Glück haben, ich habe immer Glück gehabt. Ich habe ihr einmal die Geschichte erzählt, wie ich im Eis eingebrochen bin. Ich war elf, in der ersten Klasse, Roland, Klaus und Daniela, wir waren zu viert auf dem See, an einem Sonntag vormittag. Es passierte ausgerechnet mir, die ganze Zeit waren wir zusammen, aber ausgerechnet mir passierte es. Ich hörte, wie das Eis unter den Schlittschuhen krachte, wie es zu zerreißen begann, ich hörte es, aber ich konnte nichts mehr tun, ich konnte nicht mehr weg. Ich fiel ins Wasser, in dieses eiskalte Wasser, ich konnte mich nirgendwo festhalten, alles, was ich angriff, zerbrach. Ich trat mit den Beinen, ich schlug mit den Armen auf das Wasser, ich weiß, dass ich dachte, jetzt werde ich sterben. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie mich herauszogen, zwei Erwachsene, sie hielten mir eine Stange hin, sie zogen mich aus dem Wasser.

10

NELLY Ich war im Lavinia.

KRISTINE Was ist das Lavinia?

NELLY Seit drei Monaten gehe ich dorthin. Du weißt, was es ist.

KRISTINE Keine Ahnung. Wohin gehst du seit drei Monaten?

NELLY Du weißt, was es ist. Du hast es bezahlt. Das Lavinia ist das Fitnessstudio.

KRISTINE Ich bin froh, dass es dir gefällt.

NELLY Es gefällt mir nicht.

KRISTINE Mir gefällt auch nicht alles, was ich tun muss. Ich mache es trotzdem.

NELLY Es gefällt mir nicht, deshalb gehe ich nicht mehr hin. Heute war ich das letzte Mal dort.

KRISTINE Ich habe für das ganze Jahr bezahlt, deshalb gehst du das ganze Jahr hin.

NELLY Ich habe ihnen schon gesagt, dass ich nicht mehr komme. Das Geld geben sie dir leider nicht zurück. Das Geld kannst du vergessen.

KRISTINE Du musst ins Fitnessstudio gehen, das weißt du. Du wirst wieder hingehen, weil es wichtig ist.

NELLY Ich lasse mich nicht zum Narren halten dort. Ich lasse mich nicht verarschen.

KRISTINE Wenn du nicht hingehst, wirst du fett. Wenn du fett bist, wirst du unglücklich. Wenn du unglücklich bist, bist du nicht auszuhalten. Ich werde einen Ernährungsplan für dich zusammenstellen. Du musst Gemüsesäfte trinken. Morgens, mittags, abends.

NELLY Ich werde nie so was trinken.

KRISTINE Ich trinke auch Gemüsesäfte.

NELLY Ja. Das ist ekelhaft.

KRISTINE In deinem Körper befinden sich Gifte. Unzählige verschiedene Gifte, die du aus deinem Körper rausbekommen musst. Wenn du nichts gegen die Gifte tust, breiten sie sich auf den ganzen Körper aus, machen deinen Körper hässlich. Du musst dagegen kämpfen, du musst dich von diesen Giften befreien, du musst wieder rein werden. Deshalb trinke ich die Gemüsesäfte.

NELLY Ich will nie so werden wie du.

KRISTINE Wie willst du dann werden?

NELLY Ich werde nie so werden wie du.

KRISTINE Du musst Gemüsesäfte trinken. Du wirst Gemüsesäfte trinken.

NELLY Deshalb ist er weg.

KRISTINE Wer ist deshalb weg?

NELLY Er hat dich nicht ausgehalten. Das hat er mir erzählt. Er hat nicht ausgehalten, dass du Gemüsesäfte trinkst.

KRISTINE Das hat er dir bestimmt nicht erzählt.

NELLY Gib mir viertausend.

KRISTINE Wozu?

NELLY Sage ich dir ein anderes Mal.

KRISTINE Das ist sehr viel Geld. Nie.

NELLY Ich habe bald Geburtstag. Ich wünsche es mir zum Geburtstag.

KRISTINE Es ist nicht schön, sich Geld zu wünschen. Ich schenke dir vielleicht eine Reise. Das habe ich schon beschlossen. Du sollst eine Reise machen.

NELLY Gib mir viertausend.

KRISTINE Kommt nicht in Frage.

NELLY Ich habe ein Recht darauf. Ich kann das von dir verlangen.

KRISTINE Wenn ich dir so viel Geld geben würde, würdest du dir damit Drogen kaufen. Wenn ich dir das Geld geben würde, würdest du dich umbringen damit. Glaubst du wirklich, dass ich dir das Geld gebe?

NELLY Ich brauche es für eine Operation.

KRISTINE Du bist nicht krank.

NELLY Ich habe mich in der Klinik schon angemeldet.

KRISTINE Was für eine Operation?

NELLY Gib mir die viertausend.

KRISTINE Du bist mein Engel.

NELLY Dann gib mir die viertausend.

KRISTINE Was für eine Operation? Kommt nicht in Frage.

NELLY Sonst haue ich ab.

KRISTINE Mein Engel.

11

ELENA Immer hatten wir die Angst, es könnte ihm etwas passieren, im nächsten Augenblick, er könnte eine Schere finden, er könnte sich einen Finger einklemmen, oder er könnte eine Lungenentzündung bekommen, immer waren wir in Sorge, dass ihm etwas passiert. Als er anfing in den Kindergarten zu gehen, sagte Michael, wenn ihm etwas passiert, dann sind wir nicht da, um ihm zu helfen. Wir waren nicht mehr in seiner Nähe, um ihn zu beschützen. Es gibt tausend Gefahren und gefährliche Situationen und tausend Augenblicke, in denen ein Kind unbeobachtet ist. Mit sieben brach er sich in der Schule die Hand, nichts Schlimmes, trotzdem wechselten wir die Schule, wir hatten kein gutes Gefühl. Später, mit neun, musste er einmal ins Krankenhaus, weil ein entzündeter Blinddarm nicht rechtzeitig erkannt worden war, wir saßen die ganze Nacht vor seinem Zimmer, Michael versprach ihm einen Hund, wenn er wieder gesund werden würde. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, kauften wir für ihn einen Hund, aber er sagte, er hätte sich den Hund anders vorgestellt, wir gaben den Hund wieder zurück. Er wollte einen Sittich, er ließ den Sittich frei, er hatte vergessen das Türchen zu schließen. Einmal kam er zu mir, mit zwölf, zeigte mir ein Radio und Batterien, die er gestohlen hatte, ich konnte ihn nicht bestrafen, wir konnten ihn nie für etwas bestrafen. Wir waren immer auf seiner Seite. Michael arbeitete in einer Druckerei, ich arbeitete zwei Tage in der Woche in einer Anwaltskanzlei. Wir wollten, dass er studiert, wir schlugen ihm vor, Medizin oder Architektur zu studieren, er entschied sich für Informatik. Er blieb bei uns wohnen, das war ökonomisch sinnvoller. An seinem zwanzigsten Geburtstag borgte er sich das Auto aus, er verursachte einen Unfall, er war auf der Autobahn absichtlich auf der falschen Fahrbahn gefahren, im anderen Auto wurde jemand schwer verletzt, es kam zu einer Gerichtsverhandlung, wir bezahlten alle Kosten, ich bat ihn, nicht von zuhause auszuziehen.

12

Janas und Hendriks Wohnung.

JANA Ich war auf dieser neuen Autobahnbrücke, über die jetzt dauernd in den Nachrichten berichtet wird, weil immer wieder jemand von dort runterspringt. Ich wollte mir das einmal ansehen.

HENDRIK Was denn daran ansehen?

JANA Warum springen die von dort runter?

HENDRIK Ich kenne niemanden, der von dort runterspringen wollte.

JANA Ich bin stehen geblieben und ausgestiegen, um mir das anzusehen.

HENDRIK Verrückt, auf einer Brücke stehen zu bleiben und auszusteigen.

JANA Ich bin über das Geländer geklettert. Nicht sehr hoch das Geländer, nicht schwierig, da drüberzuklettern.

HENDRIK Verrückt, dort über das Geländer zu klettern.

JANA Warum springen die da runter? Warum springen die auf die Autobahn darunter, zehn Spuren mindestens, springen vor ein Auto, oder springen auf ein Auto drauf. Warum machen die das?

HENDRIK Ich halte niemanden zurück.

JANA Ich bin so weit wie möglich an den Rand hinaus gegangen. Ich wollte runterspringen. Nein. Stimmt nicht. Stimmt nicht, Hendrik. Ich wollte nicht runterspringen. Ich wollte nur einmal runterschauen.

HENDRIK Seitdem du nicht mehr arbeitest, machst du einen Haufen komische Dinge. Was machst du den ganzen Tag?

JANA Ich fahre mit dem Auto in der Stadt herum. Ich setze mich ins Auto und fahre los. Ich fahre einfach nur so herum, ohne Ziel.

HENDRIK Du solltest deine Zeit nicht so vergeuden. Du musst Kräfte sammeln.

JANA Ich sammle Kräfte.

HENDRIK Du musst die Zeit nützen, um Kräfte zu sammeln.

JANA Das mache ich.

HENDRIK Du könntest Bewerbungsschreiben verschicken.

JANA Ich habe Bewerbungsschreiben verschickt.

HENDRIK Ein einziges.

JANA Ich warte auf eine Antwort.

HENDRIK Man muss hundert Bewerbungsschreiben verschicken. Das muss ich dir nicht sagen. Hundert Bewerbungsschreiben, nur dann funktioniert es.

JANA Ich warte zuerst auf die Antwort.

HENDRIK Du bemühst dich nicht genügend darum. Ich helfe dir, wenn du willst, ich helfe dir bei allem, das weißt du, wir helfen einander. Du musst mir sagen, wie ich dir helfen soll.

JANA Warum springen die von dieser Brücke runter?

HENDRIK Wer?

JANA Warum springen die nicht dort runter, wo unten niemand ist?