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Einer deiner Wünsche

© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor

Kurzstück für ein Theaterprojekt im ‚Hotel Reiss‘ bei den Hessischen Theatertagen 2002
Staatstheater Kassel, Regie: Bettina Bruinier

JAN

Ich kam ins Zimmer und schaltete den Fernseher ein.

Ich zog die Jacke und die Schuhe aus. Die Jacke hängte ich auf einen Kleiderbügel in den Kasten.

Ich nahm das Telephon. Ich rief Martin an, aber er hob nicht ab. Ich ließ so lange läuten, bis sich seine Mailbox einschaltete.

Ich mußte den Weckruf programmieren. Es war jetzt drei, und ich programmierte den Weckruf für acht.

Ich nahm die Fernbedienung und legte mich aufs Bett. Ich war nicht müde.

Ich lag auf dem Rücken und drückte die Tasten der Fernbedienung. Es gab vierundvierzig Kanäle. Ich klickte mich langsam von eins bis vierundvierzig und von vierundvierzig wieder zurück bis eins. Dann wieder von vorn, von eins bis vierundvierzig.

Ich hatte noch immer die Jeans an und das Hemd. Das Hemd, das wir zusammen gekauft hatten.

Ich machte den Ton leiser. Ich schloß die Augen und konzentrierte mich auf das Geräusch beim Umspringen eines Kanals auf den nächsten. Ich hielt die Augen geschlossen und drückte die Tasten der Fernbedienung und hörte dem Geräusch zu.

Ich rief Martin an. Ich wollte ihm eine Nachricht hinterlassen. Ich wartete, bis seine Mailbox kam und er seinen Ansagetext gesprochen hatte. Ich sagte, Erklär es mir, ich will es verstehen.

Der Fernseher stand auf dem Schreibtisch in der anderen Ecke des Raumes. Er war zum Bett hin gedreht. Es war ein älteres Modell, groß und unförmig, mit einem hellgrauen Gehäuse.

Eine Zeit lang blieb ich bei einem Film, in dem drei Menschen gegeneinander kämpften. Der Film spielte in einem Wochenendhaus an einem See. Zwei Frauen und ein Mann saßen im Wohnzimmer und tranken und schrieen sich an. Abwechselnd weinte einer von ihnen. Ich kannte keinen der Schauspieler. Vom Wohnzimmer aus hatte man einen herrlichen Blick auf den See. Vor dem Haus standen die Autos, ein BMW, ein Mercedes, ein Range Rover.

Ich zog die Jeans und das Hemd aus und legte die Sachen auf den Stuhl. Das Hemd hatte Martin ausgesucht. Er wollte, daß ich mich von jetzt an anders anzog. Er wollte, daß ich mich vollkommen veränderte.

Ich ließ den Fernseher laufen und ging ins Bad. Der Lichtschalter im Bad hatte einen Dimmer. Wenn man den Schalter drückte, wurde es nicht augenblicklich hell, sondern nur allmählich, ganz langsam. Ich ging ins Bad, um mir die Zähne zu putzen und das Gesicht zu waschen. Neben dem Waschbecken lag ein Stapel sorgfältig zusammengelegter hellgrüner Handtücher.

Das Bad war fast ebenso groß wie das Zimmer. An der Decke gab es einen Lautsprecher, der den Fernsehton wiedergab. Ich konnte hören, was bei der Dreiecksgeschichte passierte. Ich kontrollierte mich im Spiegel. Ich erwartete, daß irgend etwas anders war, daß irgendeine Veränderung zu sehen war, aber die Haut war weder trocken noch gerötet oder sonst irgendwie unansehnlich. Ich erwartete einen Makel, aber es war alles wie immer.

Ich legte mich wieder aufs Bett. Das Zimmer war ein Nichtraucherzimmer. Es war sauber und roch nach Zitronen, nach Zitronenduftspray. Ich legte mich aufs Bett, aber ich war nicht müde.

Ich lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Ich wartete darauf, müde und schwer zu werden. Ich wartete darauf, leer zu werden.

Ich fing an zu onanieren, langsam und mechanisch.

Martin hatte sich eine neue Sonnenbrille gekauft. Er wollte wissen, ob sie mir gefiel. Sie hatte einen Metallrahmen und Spiegelgläser. Er wollte wissen, was ich dazu sage. Er wollte, daß ich ihn bewundere. Während des Abendessens steckte er sie in die Haare und dann sah sie aus wie eine dunkel spiegelnde Krone.

Ich hörte auf zu onanieren und setzte mich auf. Ich nahm das Telephon und rief ihn an. Es war jetzt vier. Ich ließ so lange läuten, bis sich die Mailbox einschaltete. Kannst du mir sagen, was passiert ist? Warum erklärst du es mir nicht?

Die Zimmerdecke leuchtete in den Farben des Fernsehers. Wenn ich umschaltete, blitzte es kurz auf. Ich hörte auf das Geräusch beim Umspringen eines Kanals auf den nächsten.

Ich suchte die Dreiecksgeschichte. Das Wochenendhaus am See. Der Mann und die beiden Frauen, die einander haßten. Aber der Film war offensichtlich schon zu Ende, oder alles spielte nun an einem anderen Ort und ich konnte die Personen nicht wiedererkennen. Ich klickte mich von eins bis vierundvierzig und von vierundvierzig wieder zurück bis eins.

Ich fing wieder an zu onanieren. Dabei sah ich zum Fernseher hin. Ich wollte nicht onanieren und die Augen schließen und mir Martin vorstellen. Ich suchte nach einem Kanal mit Werbung. Ich machte den Ton lauter.

Nachdem ich fertig war, drehte ich mich zur Seite und wartete darauf, daß Martin anrief.

Ich ging ins Bad. Ich drückte den Lichtschalter und zeitverzögert wurde es hell. Der Raum wurde langsam eingeblendet. Ich putzte mir noch einmal die Zähne und cremte mir das Gesicht ein. Ich sah mich im Spiegel an. Das Gesicht glänzte von der Creme. Ich schaltete das Licht aus und der Raum wurde langsam wieder ausgeblendet.

Ich rief ihn an. Ich hinterließ ihm eine Nachricht. Ich sagte, Ich habe keine Regel gebrochen.

Ich nahm die zwei Flaschen Bier aus der Minibar. Ich faltete den Kopfpolster zu einer Rückenlehne. Es war ein belgisches Bier. Das Glas, das auf dem Schreibtisch stand, war schmutzig und war eigentlich ein Zahnputzglas. Ich nahm die zwei Flaschen und das Glas und setzte mich aufs Bett. Ich lehnte mich an den Polster.

Ich klickte mich ein Mal durch alle Kanäle. Ich machte einen einzigen Durchlauf, dann schaltete ich aus. Am unteren Rand des Fernsehers leuchtete ein rotes Lämpchen auf. In der Dunkelheit glühte es. Ich wollte nur das Bier trinken und ruhiger werden.

Ich zog den Vorhang vor dem Fenster weg.

Ich kannte in dieser Stadt außer Martin niemanden.

Seit einem halben Jahr kam ich jetzt hierher. Immer kam ich in seine Stadt. Immer trafen wir uns in seiner Stadt.

Wenn ich mich auf die rechte Seite drehte, konnte ich den Himmel sehen.

Von unten gab es keine Geräusche. Keine Sehr-spät-in-der-Nacht-Geräusche. Ich hätte jetzt gern ein Auto gehört, das bei einer Ampel stehen blieb und dann wieder anfuhr. Oder ein Motorrad, das viel zu schnell unterwegs war. Ich hätte gern irgendein kurzes, sinnloses Geräusch gehört.

Ich konzentrierte mich darauf. Ich konzentrierte mich auf etwas, das gar nicht da war. Aber ich wollte jetzt unbedingt etwas haben, mit dem ich mich beschäftigen konnte, etwas außerhalb von mir selbst.

Ich lag auf der Seite und sah in den Himmel und wartete, aber es blieb still.

Ich setzte mich auf und vergewisserte mich, daß ich den Hörer richtig aufgelegt hatte. Um acht würde das Zimmertelephon läuten.

Martin und ich hatten genau das gleiche silberfarbene Mobiltelephon. Zufällig. Ein Nokia. Wir hatten es schon, bevor wir uns kennenlernten. Vielleicht war es unser Erkennungszeichen. Martin machte mich darauf aufmerksam. Er zeigte mir sein Telephon und grinste.

Ich nahm es in die Hand und wartete darauf, daß er anrief.

Ich drehte mich zur Wand. Ich wollte schlafen. Ich roch die Innenflächen der Hände. Ich konnte nicht sagen, wonach sie rochen, aber es beruhigte mich. Es gibt so viele Möglichkeiten sich beschützt zu fühlen. Der Geruch gehörte zu mir und war gleichzeitig etwas vollkommen Fremdes.

Ich machte die Augen zu.

Ich erzeugte die Bilder, die ich sehen wollte. Wie wir am Strand sind, wie wir am Wasser entlang gehen, wie wir nebeneinander sitzen. Wie wir auf seinem großen, blauen Badehandtuch liegen. Wie wir wieder in der Wohnung sind. Wie wir durch die Wohnung gehen. Wie wir in der Küche zusammen kochen, und wie wir uns umarmen.

Aber ich konnte mich nicht richtig darauf konzentrieren. Die Bilder fielen immer wieder zusammen und ich mußte sie immer wieder neu erzeugen.

Ich krümmte mich zusammen, um schwächer und zerbrechlicher zu sein. Verletzbar und noch verletzbarer. Ich krümmte mich zusammen, um kleiner zu sein als der Körper.

Ich rief ihn nochmals an. Warum hebst du nicht ab?

Ich behielt das Telephon in der Hand. Ich klickte im Menü herum. Alle Anrufe, die ich in den letzten Tagen gemacht hatte, und alle Anrufe, die in den letzten Tagen reingekommen waren. Der Terminkalender und die Nachrichten, die ich gespeichert hatte, und die Eintragungen im Telephonbuch.

Es war nach fünf, aber es wurde noch nicht hell.

Ich konnte nicht schlafen. Ich konnte nicht schlafen.

Ich ging ins Bad und nahm die Nagelschere aus der Tasche. Ich fing an, mir die Fingernägel zu schneiden. Ich nahm die Brause und begann mir die Haare zu waschen. Ich verwendete mehr Shampoo als sonst. Ich massierte mit beiden Händen die Kopfhaut. Danach spülte ich das Shampoo lange aus. Ich setzte mich auf den Badewannenrand und rubbelte die Haare trocken.

Ich schaltete das Licht im Badezimmer aus und sah zu, wie der Raum langsam ausgeblendet wurde.

Ich nahm die Erdnüsse aus der Minibar und schüttete sie in den leeren Aschenbecher. Den Aschenbecher stellte ich auf das Ablagebrett am Kopfende des Bettes. Ich nahm noch das Fläschchen Wodka und den Cognac heraus.

Ich habe keine Regel gebrochen. Ich habe dich nicht betrogen, und ich habe dir nichts verheimlicht, und ich habe niemandem etwas davon erzählt.

Ich lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Ich wollte jetzt noch einmal onanieren. Ich wollte es noch einmal machen. Dann verging die Zeit schneller und ich würde müde sein danach. Ich fing an, aber ich bekam keine richtige Erektion. Ich drückte das Gesicht in den Polster.

Als ich ihn das erste Mal sah, hatte er eine Jeans an und ockerfarbene Schuhe, er trug ein T-Shirt ohne Aufdruck, einfach nur ein weißes T-Shirt, und darüber seine Lederjacke. Er schrieb mir seine Telephonnummer auf. Aber das war nichts Besonderes. Das bedeutete noch nichts. Er schrieb seine Nummer auf die Rückseite eines Kassabons und ließ den Bon auf dem Tisch liegen. Als ich ihn anrief, erwartete ich mir nichts. Als ich ihn das erste Mal anrief, meldete sich nur seine Mailbox, und ich hinterließ ihm eine Nachricht. Ich sagte zu ihm, Wenn du neugierig bist, dann ruf mich zurück.

Ich nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Ich drückte die Taste mit dem Aufwärtspfeil. Ich wollte einen Film sehen. Einen Film wie den mit dem Wochenendhaus am See. Ich wollte einen Film sehen, in dem drei Menschen über ihre Beziehung diskutieren.

Ich klickte mich durch alle Kanäle, von eins bis vierundvierzig und von vierundvierzig wieder zurück bis eins.

Ich wollte einen Film sehen, in dem sich zwei Menschen mögen und diese Verbindung von einem Dritten bedroht wird. Ich wollte jetzt eine klischeehafte und verlogene und schon tausend Mal gesehene Dreiecksgeschichte sehen. Und ich wollte sehen, wie sie ausgeht.

Aber es gab jetzt keinen solchen Film. Es liefen Wiederholungen von Talkshows und Vorabendserien, Dokumentationen und Cartoons.

Ich blieb eine Zeit lang bei einer Dauerwerbesendung. Es wurde ein multifunktionales Trainingsgerät für zuhause vorgestellt. Bei regelmäßiger Verwendung versprach das Gerät einen muskulösen, einen perfekten Körper. Ein Mann und eine Frau demonstrierten, wie man damit richtig trainierte. Die Frau trug einen lilafarbenen, eng anliegenden Trainingsanzug, hatte brünette Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, und makellose, strahlend weiße Zähne.

Der Mann war muskulöser, aber nicht zu sehr. Er trug ein orangefarbenes, ärmelloses Shirt und weite graue Trainingshosen. Er hatte hellbraune Haare und einen Seitenscheitel. Die beiden sprachen einander bei jeder Gelegenheit mit dem Vornamen an. Sie hießen Rita und Marc. Rita sagte zum Beispiel, Ich bitte dich jetzt, Marc, zeig uns bitte jetzt die nächste Übung, zuerst vielleicht ganz langsam, Marc. Und Marc antwortete darauf, Gut, Rita, ich werde jetzt die nächste Übung zeigen.

Marc zeigte, wie man die Bauchmuskulatur, die Rückenmuskulatur und die Oberschenkel trainierte. Rita kommentierte die Übungen, die Marc vorzeigte. Marc war der Körper und Rita war die Sprache.

Das Gerät konnte mit ein paar Handgriffen schnell zusammengeklappt werden und brauchte kaum Platz.

Rita und Marc trainierten in einem großen, hellen Raum, vielleicht in einem riesigen Fitnesstudio irgendwo in Kalifornien. Das war ihr Universum, hell und klar und funktional.

Ich nahm das Telephon und drückte noch einmal die Kurzwahltaste für Martins Nummer. Die Mailbox schaltete sich ein.

Ich sagte, Es hat sich nichts geändert. Ich bin dir nicht böse. Was immer passiert ist, wir können über alles reden.

Ich behielt das Telephon im Bett. Ich ließ es unter der Decke bei meinen Beinen.

Es wurde hell draußen. Um acht würde das Zimmertelephon läuten. Der Zug ging um zehn nach neun.

Ich sagte, Ich ruf dich wieder an. Wenn ich im Zug bin. Ich ruf dich um zehn an. Dann bist du schon wach. Dann wecke ich dich nicht auf. Ich will mit dir darüber reden. Ich ruf dich wieder an.

KRISTIN

Ich wachte auf und spürte die Schmerzen.

Seit mehr als einem Jahr hatte ich das nicht mehr gehabt.

Ich wachte auf und jetzt war es wieder da.

Ich drehte mich zur Wand. Ich zog die Beine an und versuchte wieder einzuschlafen. Dann würde es verschwinden.

Es war vier und ich war erst um eins eingeschlafen. Ich mußte schlafen. Ich mußte ausgeschlafen sein.

Der Weckruf war für sieben programmiert. Um halb neun war der Termin.

Ich versuchte wieder einzuschlafen, aber ich war vollkommen wach.

Ich war mir sicher gewesen, daß ich diese Schmerzen nie mehr spüren würde.

Lukas hatte es mir prophezeit. Es wird irgendwann wiederkommen. Plötzlich, wenn du es am wenigsten erwartest.

Ich zog die Decke über den Kopf. Ich machte eine Höhle. Ich rollte mich in der Höhle zusammen.

Es war der gleiche Schmerz.

Von einem Moment auf den anderen konnte alles anders sein.

Lukas hatte immer wieder zu mir gesagt, Es wird sehr lange dauern und du kannst die Zeit nicht abkürzen.

Um halb neun war das Vorstellungsgespräch.

Ich stand auf und ging ins Bad, um zu pinkeln. Die Haare waren verschwitzt und strähnig. Sie sahen furchtbar aus. Ich bürstete sie, aber sie wurden dadurch nicht besser. Ich spürte die kalten Fliesen auf dem Boden. Ich betrachtete meine Füße. Die schwarzen Schuhe färbten ab. Die Zehenspitzen und die Ferse waren schwarz.

Ich ging ins Zimmer zurück und setzte mich aufs Bett. Das Zimmer hatte einen hellgrauen, weichen Teppichboden, auf dem es angenehm war, barfuß zu gehen.

Ich konnte die Schmerzen nicht vor ihm verstecken. Er merkte sofort, was los war. Er merkte, wie ich mich veränderte.

Lukas ließ mich. Er fragte mich nicht. Er überfiel mich nicht. Er ließ mich in Ruhe. Ich mußte nichts erklären.

Ich schaltete alle Lampen ein. Ich kniete mich auf den Boden und sah unters Bett. Einmal hatte ich unter einem Bett eine Plastikfigur gefunden, einen Dinosaurier. Er war dunkelgrün und aus Hartplastik und ungefähr so groß wie eine Zigarettenschachtel.

Ich schaltete die Deckenlampe wieder aus und ließ nur die Lampe beim Bett brennen. Ich legte mich ins Bett, wickelte mich ein und drehte mich zur Wand. Ich zog die Beine an.

Die Magenschmerzen wurden stärker. Der Fremdkörper in mir wurde immer größer.

Ich lag mit angezogenen Beinen auf der Seite und atmete so regelmäßig wie möglich. Durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Beim Einatmen blähte ich den Bauch auf und beim Ausatmen preßte ich mit der Bauchdecke die Luft heraus. Ich zählte das Heben und Senken der Bauchdecke mit. Ich hörte auf das Einsaugen und das Ausströmen der Luft.

Ab und zu redeten wir über die Schmerzen und vermieden es gleichzeitig, darüber zu reden. Wir redeten darüber und redeten darum herum.

Er wollte mir helfen. Er sagte, Ich bin für dich da. Ich bin immer da, wenn du mich brauchst. Ich bin da, um dir zu helfen.

Ich setzte mich auf und preßte die verschränkten Arme gegen den Bauch. Die gegenüberliegende Hauswand wurde von einem Scheinwerfer angestrahlt. Es war ein fünfstöckiges Bürogebäude. Die Fenster sahen aus, als wären sie erst später hineingeschnitten worden.

Ich trug immer noch die Uhr, die Lukas mir einmal zum Geburtstag geschenkt hatte. In unserem zweiten Jahr. Eine Porsche-Uhr, schwarz und silberfarben, mit einem schwarzen Armband.

Ich ging ins Bad und kniete mich vor die Muschel. Ich steckte mir die zwei Finger in den Rachen. Ich schob die Finger so weit wie möglich hinunter. Ich würgte, aber ich konnte nicht erbrechen.

Ich probierte es noch einmal. Ich kniete in der Dunkelheit auf dem Boden und steckte mir die Finger in den Rachen. Der Magen zog sich zusammen. Ich wollte erbrechen, um danach ruhiger zu sein.

Ich nahm die Uhr herunter und warf sie in den kleinen, weißen Plastikmistkübel unter dem Waschbecken. Der Mistkübel hatte einen Deckel, den man mit einem Pedal öffnen konnte.

Der Schmerz war das Zentrum und der Schmerz teilte mich in zwei Teile, oder vier, oder sechs.

Wir waren drei Jahre lang zusammen. Alle hielten uns für ein glückliches Paar.

Ich holte die Mappe und legte sie aufgeschlagen auf den Tisch. Ich schaltete die Schreibtischlampe ein. Ich nahm die Klarsichthüllen heraus und kontrollierte, ob alles da war. Ich nahm jedes einzelne Blatt heraus. Ich vergewisserte mich, daß ich alles mitgenommen hatte. Ich steckte die Blätter wieder in die Klarsichthüllen zurück und die Klarsichthüllen in die Mappe. Ich legte das Telephon und den Terminkalender neben die Mappe. Ich schlug den Terminkalender auf und las mir noch einmal die Adresse vor.

Ich wollte diesen Job unbedingt haben.

Lukas war Architekt. Nach dem Studium hatte er sehr bald ein eigenes Büro gegründet. Anfangs hatte er nur zwei Mitarbeiter. Sie machten Inneneinrichtungen, Wohnungen und Büros, manchmal einen Dachausbau.

Wenn ich die Schmerzen hatte, dann sagte ich es ihm, und er legte sich neben mich und legte seine Hand auf meinen Bauch.

Ich legte mich wieder auf den Rücken. Ich versuchte, die Punkte zu spüren. Dabei rief ich mir alles ins Gedächtnis, was ich im Kurs gelernt hatte. Ich mußte einen Fokus finden. Ich mußte meine Punkte finden. Ich mußte etwas außerhalb von mir finden.

Aber ich konnte meine Atmung nicht kontrollieren und ich konnte meine Punkte nicht finden. Ich kniete mich aufs Bett und preßte das Gesicht in den Polster. Die Haare wurden noch mehr verschwitzt und noch strähniger und noch furchtbarer.

Ich durfte keinen Fehler machen. Ich durfte jetzt auf keinen Fall einen Fehler machen.

Lukas arbeitete jeden Abend und er arbeitete an jedem Wochenende. Aber das war in Ordnung für mich. Ich brauchte sehr viel Zeit für mich allein.

Er sagte zu mir, Es ist alles gut. Ich bin da. Ich helfe dir. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.

Er zwang mich nie und versuchte nie, mich zu überreden.

Wir waren drei Jahre lang zusammen. Lukas hatte ein Recht auf eine Antwort.

Ich holte die Zigaretten aus der Tasche, nahm den Aschenbecher und setzte mich an den Tisch. Sonst rauchte ich die erste Zigarette nie vor zehn. Wenn ich einmal damit angefangen hatte, mußte ich im Halb-Stunden-Rhythmus rauchen. Es war eine Packung Marlboro light, die ich am Abend an der Bar unten gekauft hatte.

Das Einsaugen und Ausblasen des Rauchs würde mir gut tun.

Ich nahm die Mappe, nahm die Klarsichthüllen heraus, nahm die Blätter aus den Klarsichthüllen heraus, und begann, jedes Blatt noch einmal durchzulesen.

Ich sog den Rauch langsam ein und blies ihn langsam wieder aus. Ich sog ihn tief und lange ein und blies ihn sehr langsam wieder aus.

Ich drückte die Zigarette nicht im Aschenbecher aus, sondern warf sie in die Klomuschel. Ich putzte mir die Zähne, cremte die Hände ein und bürstete die Haare.

Wenn ich die Schmerzen hatte, am Anfang, dann kochte er für mich einen Tee und brachte mir den Tee zum Bett und hielt mich, damit ich keine Angst mehr hatte.

Wir zogen erst nach einem Jahr zusammen. Wir ließen uns Zeit. Wir wollten alles richtig machen. Lukas lernte die Leute kennen, die wichtig für ihn waren. Er bekam einen großen Auftrag. Ein Projekt in Frankreich. Es erschien ein Artikel über ihn und er zeigte mir den Artikel.

Ich lag auf dem Rücken und sah beim Fenster hinaus. Ich sah zu dem Bürogebäude. Ich massierte mit einer kreisenden Bewegung meinen Bauch.

Ich zündete eine neue Zigarette an und konzentrierte mich auf den warmen Rauch. Ich hörte dem Knistern zu und stellte mir vor, wie große, trockene Büsche brennen. Ich stellte mir das Knacken und Bersten von brennendem Holz vor.

Die Uhr lag im Mistkübel im Bad. Ich mußte den Fernseher einschalten, um zu erfahren, wie spät es war. Ich wartete ein paar Minuten, dann gab es auf CNN Kurznachrichten. Es war halb sechs. Ich sah die Nachrichten an und schaltete wieder aus.

Es war genau der Job, den ich wollte. Sie hatten bereits alle Unterlagen gesehen, es kam nur mehr auf das persönliche Gespräch an. Alles hing nur mehr davon ab, welchen Eindruck ich machte.

Lukas legte seine Hand auf meinen Bauch und streichelte mich. Wenn er neben mir lag und mich streichelte, dann fühlte ich mich sicher.

Er hatte ein Recht darauf, daß ich ihm sagte, warum ich mich so entschieden hatte. Warum ich es unbedingt tun mußte. Ich war ihm seit einem halben Jahr eine Antwort schuldig.

Ich öffnete den Koffer, der auf der Kofferablage neben dem Schreibtisch lag, und nahm alles heraus, was ich heute anziehen wollte. Ich schlüpfte in den langen Rock und zog die Jacke an.

Nachdem ich mich im Spiegel kontrolliert hatte, zog ich alles wieder aus, legte den Rock auf den Stuhl, die Jacke darüber. Ich machte den Kofferdeckel zu und verstellte das Zahlenschloß.

Ich ging wieder ins Bett. Ich nahm die Mappe in die Hand, ohne sie aufzumachen. Ich rutschte an das Kopfende des Bettes und zog die Beine an. Ich hielt die Mappe vor den Bauch und begann wieder mit den Atemübungen.

Ich drehte mich zur Wand und schloß die Augen. Die Schmerzen machten den Körper größer. Sie dehnten ihn. Sie bliesen mich auf.

Ich bekam einen großen, weichen Körper. Ich bekam einen schutzlosen Körper.

Ich ging ins Bad und setzte mich auf die Muschel. Ich wollte jetzt scheißen und pinkeln und erbrechen. Ich wollte die Schmerzen aus dem Körper rausbekommen. Die Haare waren verschwitzt und strähnig. Ich spürte wieder die kalten Fliesen auf dem Boden. Ich betrachtete die schwarzen Zehenspitzen. Wenn ich erbrechen könnte, dann würden die Schmerzen verschwinden.

Ich ging ins Zimmer zurück und spürte den weichen Teppichboden. Ich legte mich auf den Rücken. Ich versuchte, meine Punkte zu finden.

Manchmal wenn ich die Schmerzen hatte, dann schliefen wir miteinander. Er streichelte zuerst lange meinen Bauch, dann hob er mich hoch und fing ganz langsam, ganz zärtlich an. Meistens konnte ich mich dadurch entspannen. Ich konnte jemand anderes werden.

Ich trennte mich von Lukas im September. Am zweiten September, als er gerade in Frankreich war. Ich zog aus der Wohnung aus. Ein paar Tage danach rief ich ihn in Frankreich an und sagte es ihm.

Ich sagte zu ihm, daß ich ausgezogen war und bei einer Freundin wohnte. Ich sagte zu ihm, daß ich ihn nicht hassen würde und daß ich ihm nicht die Schuld für alles geben würde. Ich sagte ihm diese ganze übliche Scheiße und ich wußte nicht, was davon stimmte und was nicht.

Die Tabletten waren in den Seitentaschen des Koffers. Aber es gab nur Kopfschmerztabletten, keine Magentabletten oder krampflösende Tabletten. Ich nahm die Kopfschmerztabletten.

Ich nahm fünf Thomapyrin und trank die kleine Flasche Rotwein aus der Minibar dazu. Die Flasche hatte einen Schraubverschluß und der Wein roch nach nichts. Ich faltete den Kopfpolster zu einer Rückenlehne und setzte mich aufs Bett.

Ich schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher ein und blieb auf CNN. Es liefen kurze Werbespots für Luxus-Hotels. Das Marriott in Singapur, das Marriott in New Delhi, das Marriott in Sydney, das Marriott in Jakarta, das Marriott in Kuala Lumpur.

Ich trank den Rotwein aus.

Die Mappe mit den Unterlagen behielt ich im Bett.

Es wurde hell. Ich stellte mich ans Fenster. Die ersten Autos wachten auf und fuhren aus ihren Parkplätzen heraus.

Ich nahm mir noch eine Zigarette. Als ich sie zu Ende geraucht hatte, nahm ich das Eau de toilette und versprühte es im Zimmer.

Der Termin war um halb neun und spätestens um neun würde alles entschieden sein.

Damals im September mußte ich es unbedingt tun. Ich mußte mich von ihm trennen, sofort, ich mußte ausziehen, ich mußte alle Brücken abbrechen.

Ich stellte die leere Weinflasche auf den Schreibtisch.

Ich ging noch einmal ins Bad, kniete mich vor die Muschel und steckte die Finger in den Rachen. Ich erbrach. Ich erbrach den Rotwein und das Fleisch und die Pommes frites. Alles, was ich am Abend gegessen hatte. Danach putzte ich mir die Zähne, wusch mir das Gesicht und bürstete die Haare.

Ich bückte mich und holte die Uhr aus dem Mistkübel. Ich hielt sie unters Wasser. Dann trocknete ich sie ab und gab sie aufs Handgelenk.

Ich ging ins Zimmer und legte mich aufs Bett. Ich bemühte mich, ganz langsam, ganz gleichmäßig zu atmen.

Im Bürogebäude auf der anderen Seite wurde ein Fenster geöffnet. Ein Mann sah kurz heraus. Dann schloß er das Fenster wieder.

Seit der Trennung war ich Lukas eine Antwort schuldig. Aber ich konnte ihm immer noch nicht sagen, warum ich mich so entschieden hatte. Er wartete auf eine Antwort, die ich ihm nicht geben konnte, und er wartete darauf, daß ich wieder zurückkehrte zu ihm.