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Weinende Kavallerieoffiziere

Magda Kropiunig und Oliver Vollmann in „Weinende Kavallerieoffiziere“ im Rahmen des Projekts „Reigen Revisited“, Landhaus Klagenfurt 2014
Regie: Ute Liepold
(Foto: Stefan Schweiger)

© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor

Szene für das Projekt „Reigen Revisited“

ALFRED Das ist mir noch nie passiert. Es tut mir Leid, dass das passiert ist.

EMMA Das ist wahrscheinlich passiert, weil du den ganzen Tag Pornos geschaut hat.

ALFRED Ich habe nicht den ganzen Tag Pornos geschaut.

EMMA Du brauchst dich dafür nicht zu entschuldigen. Wahrscheinlich wolltest du dich auf diese Weise auf unser Treffen vorbereiten.

ALFRED Nein. Ich habe den ganzen Tag an dich gedacht.

EMMA Das ist schön, dass du das sagst. Ich habe den ganzen Nachmittag damit verbracht, Pornos zu schauen. Um mich auf unser Treffen vorzubereiten.

ALFRED Du hast dich mit Pornos auf unser Treffen vorbereitet?

EMMA Ich war so nervös, und Pornos beruhigen mich.

ALFRED Warst du wegen mir so nervös?

EMMA Wegen meinem Mann.

ALFRED Er wird das zwischen uns nie erfahren.

EMMA Es ist gut, dass nichts passiert ist. Was nicht passiert ist, kann auch nicht ans Licht der Öffentlichkeit gelangen.

ALFRED Es ist nichts passiert, weil ich dich so liebe.

EMMA Wenn du mich wirklich so lieben würdest, wie du behauptest, dann hättest du bereits eine Erektion gehabt, noch bevor ich diesen Raum betreten habe. Wenn du mich wirklich so lieben würdest, hättest du mich mit deiner Erektion bedrängt und hättest gar nicht zugelassen, dass wir, statt in unbändiger wilder Lust übereinander herzufallen, ein Gespräch beginnen.

ALFRED Nein. Ganz im Gegenteil. Es ist wie bei Stendhal. In seinem Buch „Über die Liebe“ erzählt er von einer Gruppe von Kavallerieoffizieren, die sich darüber unterhalten, dass sie ausgerechnet bei der Frau, die sie am meisten geliebt haben, keine Erektion bekommen konnten. Stendhal nennt es natürlich nicht so, er verwendet für den nicht zustande gekommenen Geschlechtsverkehr den Begriff Fiasko. Das heißt, dass sich große Gefühle und eine bestimmte körperliche Mechanik gegenseitig behindern. Mein großes Gefühl für dich hindert mich daran, eine Erektion zu bekommen. Würde ich andererseits eine Erektion bekommen, würde mich das von einem großen Gefühl für dich abhalten. Ich kann mir also aussuchen, auf was ich verzichten muss. Das heißt genaugenommen, du kannst es dir aussuchen. Du hast die Möglichkeit, zu entscheiden. Und ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich immer nur eine meiner Kompetenzen ins Spiel bringen kann und niemals beide zur selben Zeit. Zugleich muss ich mich dafür schuldig fühlen.

EMMA Was ist das für eine absonderliche Theorie? Ich halte nichts von dieser Theorie. Abgesehen davon bist du kein Kavallerieoffizier.

ALFRED Zugegeben bin ich kein Kavallerieoffizier, aber Stendhal meint mit Kavallerieoffizier nicht unbedingt nur jene Menschen, die diesen Beruf ausüben, sondern auch jene, die sich mit den Werten eines Kavallerieoffiziers identifizieren.

EMMA Dass du dich mit den Werten eines Kavallerieoffiziers identifizierst, ist neu. Ich bin bereit, alles, mit dem du dich identifizierst, zu respektieren. Aber es ist nicht glaubhaft. Es ist nicht glaubhaft, weil du kein Pferd besitzt.

ALFRED Um sich mit den Werten eines Kavallerieoffiziers zu identifizieren, muss man nicht notwendigerweise ein Pferd besitzen.

EMMA Du besitzt nicht einmal einen Führerschein.

ALFRED Ein Kavallerieoffizier definiert sich nicht durch sein Pferd, sondern durch seine innere Haltung.

EMMA Ein Kavallerieoffizier wird nicht als Kavallerieoffizier geboren, sondern er erwirbt sich seine Haltung im Lauf seiner Ausbildung. Und zu dieser Ausbildung gehört wesentlich dazu, dass er reiten lernt. Das Wort Haltung kommt daher, dass man sich auf einem Pferd gerade halten kann.

ALFRED Stendhal verwendet das Bild vom Kavallerieoffizier, weil wir mit diesem Bild wie selbstverständlich den Begriff Erektion verknüpfen. Ein Kavallerieoffizier steht für permanente sexuelle Begierde und niemals nachlassende Potenz. Wenn wir das Wort Kavallerieoffizier hören, haben wir dabei schon den Hengst des Kavallerieoffiziers vor Augen. Wir sehen diesen Hengst auf der Koppel, unruhig und voller Tatendrang. Wir sehen seine vom Schweiß glänzenden Muskeln, wir sehen seine aufgeblähten Nüstern. Ein Hengst, so nehmen wir an, hat keinen anderen Gedanken als eine Stute zu bespringen. Wenn Stendhal nun diese Geschichte erzählt, dann sagt er uns damit, dass sogar Kavallerieoffiziere sich immer entweder für ein Gefühl oder für einen mechanischen Vorgang entscheiden müssen, dass sie aber durch ihre Werte wie Ritterlichkeit und Sittlichkeit sich letzten Endes für das Gefühl entscheiden.

EMMA Diese Theorie ist schon lange widerlegt. Du solltest etwas anderes als Stendhal lesen. Du solltest auch keine Romane lesen, sondern Bücher über Ökonomie und Rechnungswesen.

ALFRED Stendhal erzählt auch von einem Husarenleutnant, der über Wochen hinweg eine Frau angebetet hat, als er dann aber endlich mit ihr zusammen war, konnten sie nichts anderes tun, als drei Nächte hindurch miteinander zu weinen.

EMMA Sie haben geweint, weil er keine Erektion bekommen konnte.

ALFRED Sie haben geweint, weil sie einander liebten. Und weil sie dieses Gefühl rein halten wollten. Sie haben versucht, ein reines Gefühl zu konservieren. Sie wollten Reinheit und Transzendenz. Ich möchte, dass wir miteinander weinen.

EMMA Ich möchte nicht mit dir weinen.

ALFRED Ich bitte dich darum.

EMMA Ich kann nur weinen, wenn ich traurig bin.

ALFRED Du bist doch jetzt traurig darüber, dass gerade eben nichts passiert ist.

EMMA Würde ich mit dir weinen, würde ich dabei an all die Situationen denken müssen, in denen ich geweint habe. Und das waren immer Scheiß Situationen.

ALFRED Das hier ist keine Scheiß Situation. Das ist eine ganz normale Situation für zwei Menschen, die versuchen, miteinander zu schlafen. Kannst du denn nicht ein bisschen mit mir weinen? Kannst du dir denn nicht vorstellen, dass ich ein französischer Kavallerieoffizier bin? Ich bin ein Kavallerieoffizier. Es stimmt, ich esse kein Fleisch, aber ich bin ein Kavallerieoffizier. Ich ernähre mich vegan, aber ich bin ein Kavallerieoffizier. Ich kaufe Fair-Trade-Produkte, aber ich bin ein Kavallerieoffizier. Warum fällt es dir so schwer, dir das vorzustellen? Ich möchte mit dir weinen. Aber ich möchte nicht weinen, um dieses Gefühl der Liebe zu konservieren, sondern um dieses Gefühl loszuwerden. Ich muss dieses verdammte Gefühl aus meinem Körper entfernen, sonst werden wir nie miteinander schlafen können. Ich möchte weinen, um dich zu anonymisieren.

EMMA Ich will nicht, dass du mich anonymisierst.

ALFRED Ich muss dich zuerst anonymisieren, dann kann ich mit dir schlafen.

EMMA Ich bin zu dir gekommen, um meinen Mann zu betrügen. Ich habe nicht gedacht, dass das so kompliziert ist.

ALFRED Es tut mir Leid, dass es so kompliziert ist.

EMMA Ich wäre mit ganz normalem Geschlechtsverkehr zufrieden gewesen.

ALFRED Es gibt keinen ganz normalen Geschlechtsverkehr.

EMMA Ich kann mir nicht vorstellen, dass französische Kavallerieoffiziere jedes Mal zuerst die Frau, mit der sie in einem Stall oder in dem Zimmer eines billigen Gasthofes schlafen wollten, anonymisieren mussten.

ALFRED Vielleicht ist weinen eine Anonymisierungsstrategie.

EMMA Das glaube ich nicht.

ALFRED Wir könnten uns vorstellen, dass ich ein Kavallerieoffizier bin und du die Frau eines hohen Beamten in irgendeiner Garnisonstadt weit weg von Paris. In einer Garnisonstadt, wo man glaubt, vor Langeweile sterben zu müssen und es keine andere Form der Unterhaltung gibt, als seinen Ehepartner zu betrügen. Wir könnten uns vorstellen, dass wir uns kennengelernt haben, als du bei einem Ausritt von deinem Pferd abgeworfen wurdest und ich dich gefunden und gerettet habe. Wir könnten uns vorstellen, dass du ohnmächtig in meine Arme gesunken bist und ich deine Bluse und dein Korsett öffnen musste, damit du mehr Luft bekommst. Dann fallen wir uns in die Arme und weinen vor Glück. Danach habe ich eine Erektion.

EMMA Das ist ganz schön viel Aufwand, um miteinander zu schlafen.

ALFRED Anders kann ich nicht mit dir schlafen.

EMMA Eine Garnisonstadt und ein Ausritt und ein Korsett sind eine Anhäufung von billigen Klischees.

ALFRED Ich brauche diese billigen Klischees, um eine Erektion zu bekommen.

EMMA Ich will keinen klischeehaften Geschlechtsverkehr.

ALFRED Das hast du mir nicht gesagt. Du hast mir gesagt, dass du mich liebst und dass du deinen Mann betrügen willst.

EMMA Das stimmt auch. Trotzdem will ich keinen klischeehaften Geschlechtsverkehr. Ich will romantischen Geschlechtsverkehr.

ALFRED Nichts ist so klischeehaft wie romantischer Geschlechtsverkehr. Genau das wollte uns Stendhal sagen. Wenn wir unbedingt Geschlechtsverkehr haben wollen, dann müssen wir Romantik akzeptieren. Romantik ist eine Art Nebenwirkung, die wir akzeptieren müssen. Du musst eben akzeptieren, dass ich ein Kavallerieoffizier sein will und ich muss akzeptieren, dass du deinen Mann betrügen willst aus irgendwelchen romantischen Motiven. Wenn es uns gelingt, das zu akzeptieren, dann können wir wunderbaren Geschlechtsverkehr haben.

EMMA Einverstanden. Ich bin hergekommen, um meinen Mann zu betrügen, um mich auf diese Weise zu einer Frau mit einer interessanten Geschichte zu machen. Ich bin hergekommen, um zu einer Frau mit einer Affäre zu werden, die meine Freundinnen für interessant und erzählenswert halten. Ich bin hergekommen, um zu einer Frau mit einem aufregenden Leben zu werden. Wenn es dafür notwendig ist, dass du ein Kavallerieoffizier bist und ich die geheimnisvolle Ehefrau eines langweiligen höheren Beamten irgendwo in der französischen Wüste, dann akzeptiere ich das.

ALFRED Dann probieren wir es also noch einmal?

EMMA Ja. Probieren wir es noch einmal.